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Inhaltsverzeichnis

 

1. Einleitung 3

2. Wirtschaftspolitische Akteure und Konsensökonomie 5

2.1 Die Stiftung der Arbeit (Stichting van de Arbeid) 5

2.2 Der Sozialökonomische Rat (Social-Economische Raad) 6

2.3 Die Konsensökonomie der Niederlande 7

3. Die wirtschaftliche Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg 8

3.1 Der Aufbau der niederländischen Wirtschaft 8

3.2 Erdgas, Sozialstaatsexpansion und "Dutch Disease" 10

3.3 Die Wende von Wassenaar und das "Beschäftigungswunder" 12

3.4 Das Beschäftigungswunder – eine kritische Bilanz 13

4. Die Rückkehr zum Verhandlungsmodell als Vorbild 16

4.1 Konsensökonomie – ein typisch niederländisches Phänomen? 17

4.2 Die Rolle des Sozialökonomischen Rats im Verhandlungsmodell 18

4.3 Konsensökonomie als Krisenmodell auf Zeit? 20

5. Resümee 22

 

Literaturverzeichnis

 

 

 

 

 

 

1. Einleitung

Die Niederlande sind als Gegenstand der politikwissenschaftlichen Betrachtung in vielerlei Hinsicht ein interessantes und facettenreiches Forschungsobjekt. Dies liegt in erster Linie daran, daß dieses Land in seiner Entwicklung viele Besonderheiten aufweist, die es von anderen westeuropäischen Staaten unterscheidet. Das gilt auch für die niederländische Wirtschaftsentwicklung. Im Zusammenhang mit der niederländischen Wirtschaft wird derzeit oft vom "Niederländischen Modell" oder gar von einem "Beschäftigungswunder" gesprochen. Ungeachtet der Frage, inwieweit solche Superlative und Schlagworte hilfreich sind, um sich sachlich und systematisch mit einem gesellschaftlichen Phänomen auseinanderzusetzen, kommt damit zum Ausdruck, daß die aktuelle Wirtschaftslage in den Niederlanden vom Ausland mit großem Interesse beobachtet wird und daß ihr vielfach Vorbildcharakter zugebilligt wird. Diese Tatsache ist insofern erstaunlich, als daß gerade die Niederlande in den 80er Jahren mit einer Arbeitslosenquote von bis zu 15 Prozent eine unrühmliche Spitzenstellung in Europa einnahmen. Der Zeitraum seit 1982 reichte den Niederländern aus, um aus einer völlig maroden Volkswirtschaft ein System zu errichten, das insbesondere aus beschäftigungspolitischer Perspektive für zahlreiche Experten und Politiker zum nachahmenswerten Beispiel avanciert ist. Im Gegensatz zu Ländern wie Großbritannien oder den USA, die in den 80er Jahren einen kruden neoliberalen Kurs zu steuern begannen, gelang es den Niederlanden, ähnlich gute Beschäftigungseffekte zu erzielen, ohne dabei den Sozialstaat in Schutt und Asche zu legen. So konstatiert beispielsweise die OECD: "The Dutch welfare system remains among the most generous in the OECD area." (OECD 1996: 104)

Was ist also dran an der Entwicklung "vom kranken Mann Europas zum weltweiten Vorbild" (Schettkat 1997: 807), und wie war sie möglich? Dieser Frage soll im folgenden Text nachgegangen werden. Um eine allgemeine Einordnung zu ermöglichen, wird zunächst die wirtschaftliche Entwicklung der Niederlande nach dem Zweiten Weltkrieg grob skizziert. Grundlegende wirtschaftspolitische Positionen werden kurz angesprochen, und die wichtigsten wirtschaftspolitischen Akteure werden vorgestellt.

Anschließend wird die aktuelle Situation der niederländischen Wirtschaft etwas genauer unter die Lupe genommen und Schlagworte wie "Beschäftigungswunder" kritisch auf den Prüfstand gestellt.

Schließlich wird die originär politikwissenschaftliche Frage behandelt, welche gesellschaftlichen Mechanismen und Institutionen auf den wirtschaftspolitischen Prozeß eingewirkt haben und immer noch einwirken. Dabei sollen einige Thesen vorgestellt und erörtert werden, die eine gewisse Relevanz vermuten lassen.

Eine Analyse der wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes kann mit einer unterschiedlichen Akzentuierung vorgenommen werden. Eine primär ökonomische Betrachtung würde etwa vor dem Hintergrund einer bestimmten Wirtschaftstheorie untersuchen, welche Ordnungsprinzipen in einer Volkswirtschaft Gültigkeit besitzen, wie es um den Wettbewerb bestellt ist, auf welche Weise Güterallokation stattfindet oder wie sich bestimmte Indikatoren (z.B. BIP, Beschäftigung, Handelsbilanz, Inflationsrate, etc.) entwickeln. Der politische Willensbildungsprozeß würde, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle spielen. Für eine politikwissenschaftliche Herangehensweise liegt gerade hier jedoch ein zentraler Punkt der Fragestellung. Es ist zwar auch von Interesse, wie sich die Wirtschaft eines Landes anhand verschiedener Indikatoren entwickelt, ob es beispielsweise hohe oder niedrige Arbeitslosigkeit gibt, jedoch immer nur in dem Maße, in dem es politische Akteure - wie eine Regierung oder verschiedene Institutionen - betrifft. Wie verläuft der Prozeß der politischen Auseinandersetzung über wirtschaftspolitische Probleme? Welche Ergebnisse werden auf welche Weise erzielt? Wie wirken sich die erzielten Ergebnisse auf andere gesellschaftliche Teilbereiche aus? So lauten politikwissenschaftliche Fragestellungen, die sich mit dem Wirtschaftssystem eines Landes auseinandersetzen.

Da die vorliegende Arbeit eine politikwissenschaftliche Perspektive einnimmt, geht es in erster Linie darum, die Interdependenzen zwischen Wirtschaftssystem und dem politischen System der Niederlande zu betrachten. Die Beschäftigungssituation in den Niederlanden wird dabei ein Referenzpunkt darstellen.

2. Wirtschaftspolitische Akteure und Konsensökonomie

Neben der Regierung und ihren zuständigen Ministerien sind gemeinhin Arbeitgebervertreter und Gewerkschaften die Hauptakteure in wirtschaftspolitischen Prozessen. Auf institutioneller Ebene formierten sich in den Niederlanden bereits kurz nach Kriegsende weitere Organisationen, die bis heute einen festen Platz im niederländischen Wirtschaftssystem einnehmen. So entstand bereits 1945 das Zentrale Planungsbüro (CPB), die Stiftung der Arbeit (SvdA) und im Jahr 1950 der Sozioökonomische Rat (SER). Aus institutioneller Sicht sind zudem zwei Gesetze bedeutsam, die bereits vor dem Zweiten Weltkrieg in Kraft gesetzt wurden und bis heute wichtige Einflußfaktoren für die niederländische Wirtschaftspolitik darstellen. Zum einen handelt es sich dabei um ein Tarifvertragsgesetz (CAO) aus dem Jahr 1927, das die allgemeine Grundlage für Tarifverhandlungen zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern legt. Ergänzend dazu wurde 1937 das Gesetz zur allgemeinen Verbindlichkeits- und Unverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen (AVV) erlassen, in dem die Tarifvereinbarungen auch für nicht organisierte Arbeitgeber wirksam werden (van Empel 1997: 6). Schließlich war die niederländische Zentralbank ähnlich der deutschen Bundesbank für die Geldpolitik verantwortlich.

Nachfolgend werden zwei Organisationen vorgestellt, die für die niederländische Konsensökonomie besondere Bedeutung besitzen.

 

2.1 Die Stiftung der Arbeit (Stichting van de Arbeid)

Kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern auf privatrechtlicher Ebene die Stiftung der Arbeit (SvdA) gegründet. Ursprüngliches Bestreben dieser Initiative war es, ein Forum zu schaffen, in dem die Sozialpartner einen Gedankenaustausch über grundlegende wirtschaftspolitische Angelegenheiten pflegen und Kontroversen beilegen können. Durch Konsultationen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern sollten gute Beziehungen zwischen diesen Gruppen geschaffen und erhalten werden. Darüber hinaus hat es sich die SvdA zur Aufgabe gemacht - aufgefordert und unaufgefordert - Arbeitgeber-, Arbeitnehmerorganisationen sowie die Regierung und politischen Parteien mit Informationen und Empfehlungen zu bedienen.

Die Stiftung besitzt einen Vorstand mit zwei Vorsitzenden, von denen jeweils einer die Arbeitgeber-, der andere die Arbeitnehmerseite repräsentiert. Ansonsten ist der Vorstand paritätisch mit je acht Arbeitgeber- und acht Arbeitnehmervertretern besetzt. Die SvdA ist an den sogenannten Frühjahrs- und Herbstberatungen mit der Regierung beteiligt, in denen die Regierung die Grundzüge ihrer geplanten Finanz-, Steuer- und Haushaltspolitik vorstellt und mit den Gesprächsteilnehmern debattiert werden (Bertelsmann-Stiftung 1997: 3).

 

2.2 Der Sozialökonomische Rat (Sociaal-Economische Raad)

Neben der SvdA stellt der Sozialökonomische Rat (SER) eine wichtige Institution im niederländischen Wirtschaftssystem dar. Anders als die SvdA ist der SER eine öffentlich-rechtliche und im "Gesetz über die Wirtschaftsorganisation" von 1950 verankerte Organisation (Bryde 1972: 70). Trotz seiner öffentlich-rechtlichen Stellung ist der SER nicht staatlich finanziert, sondern bestreitet seine Arbeit aus Mitteln der freien Wirtschaft. Für die Zusammensetzung des SER gilt das Prinzip der Drittelparität. Unter den derzeit 33 Mitgliedern (maximal 45 sind vorgesehen) befinden sich je elf Arbeitgebervertreter, Arbeitnehmervertreter und unabhängige Sachverständige. Die Sachverständigen, die sogenannten "Kroonleden", werden von der Regierung benannt. Es handelt sich dabei zumeist um Professoren aus den Bereichen Wirtschaft, Finanzen, Recht oder Sozialwissenschaften. Der Präsident der Niederländischen Zentralbank (De Nederlandsche Bank) und der Direktor des Zentralen Planungsbüros (CPB) sind aufgrund ihres Amtes Mitglied der Sachverständigen.

Die wichtigste Aufgabe des SER ist die Beratung der Regierung in volkswirtschaftlichen Fragen. Seine Empfehlungen sind geleitet von dem Streben nach ausgeglichenem und kontinuierlichem Wirtschaftswachstum, einem möglichst hohen Beschäftigungsstand und einer gerechten Einkommensverteilung (SER 1998). Die Regierung muß bei allen wichtigen Fragen den Standpunkt des SER einholen, ohne jedoch verpflichtet zu sein, diesen Empfehlungen nachzukommen (Zahn: 316). Wenn der SER allerdings zu einem bestimmten Thema einstimmig eine Empfehlung abgibt, dann kann fest damit gerechnet werden, daß in der Wirtschaft ein breiter Konsens dafür vorhanden ist.

Im SER finden institutionalisierte Debatten zwischen den Sozialpartnern und unabhängigen Sachverständigen statt, wohingegen in der SvdA flexible Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern geführt werden.

Weiterhin obliegt dem SER eine sogenannte Mitverwaltungsaufgabe, in deren Rahmen er vom Staat eine quasi legislative Vollmacht zur Ausfertigung und Durchführung bestimmter Gesetze (z.B. Betriebsverfassungsgesetz) erhält.

 

2.3 Die Konsensökonomie der Niederlande

Die Wirtschaftsordnung der Niederlande wird oft als "Konsensökonomie" bezeichnet. Und es existiert der Begriff "overlegeconomie", hinter dem sich ein gemeinsames Überlegen relevanter Partner verbirgt. Auf institutioneller Ebene ist das niederländische Verhandlungsmodell durch die Stiftung der Arbeit, den Sozialökonomischen Rat sowie die Tarifgesetze verankert. Der SER kann als die institutionelle Verkörperung der Konsensökonomie angesehen werden (Zahn: 319).

Auch kulturelle Faktoren spielen beim Verhandlungsmodell eine Rolle. Die niederländische Gesellschaft ist zu einem hohen Grad organisiert. Dies läßt sich auch ideengeschichtlich belegen. In den wichtigsten ideologischen Strömungen ist gesellschaftliche Organisation bereits auf grundlegender Ebene angelegt. So ist das Subsidiaritätsprinzip ein elementarer Baustein der katholischen Soziallehre. Aber auch in der protestantischen Soziallehre (Souveränität im eigenen Kreis), in der Sozialdemokratie (funktionale Dezentralisierung) und im Liberalismus (Thorbeckes organischer Liberalismus) finden sich entsprechende Überzeugungen (van Empel: 5).

Zahn weist darauf hin, daß das Suchen und die Inanspruchnahme von Beratungen in den Niederlanden niemals als kompromittierend und den Wert der eigenen Leistung schmälernd angesehen wird. Kompromißbereitschaft wird geschätzt und ist nicht mit dem Makel des Nachgebenmüssens belastet (Zahn: 321). Die Beratungskultur in den Niederlanden ist folglich tief verwurzelt. Dementsprechend findet sich auch in Wirtschaftsbeziehungen diese kooperative Grundhaltung und prägt die Umgangsformen der wirtschaftspolitischen Akteure. Durch eine ausgewogene Struktur formeller und informeller Beratungsinstrumente werden die jeweiligen Interessen der Regierung, der Zentralbank, der Gewerkschaften und der Arbeitgebervertreter sehr früh gemeinschaftlich debattiert. Diese Tatsache, gepaart mit dem Streben nach Kompromissen, stellt das Fundament der niederländischen Konsensökonomie als ein herausragendes Charakteristikum dar.

 

3. Die Wirtschaftliche Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg

3.1 Der Aufbau der niederländischen Wirtschaft

Wie in der Bundesrepublik Deutschland war auch in den Niederlanden eine Währungsunion der Ausgangspunkt der wirtschaftlichen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg. Bereits 1948 war erstmals das jährliche Pro-Kopf-Einkommen der Niederländer höher als das Vorkriegsmaximum des Jahres 1929. Die Arbeitslosenquote lag Ende der 40er Jahre bei ca. zwei Prozent. Damit herrschte praktisch Vollbeschäftigung. Seitens der Regierung wurden Preisstabilität, eine ausgeglichene Handelsbilanz sowie Vollbeschäftigung als wirtschaftspolitische Zielgrößen ausgegeben. Später wurde auch wirtschaftliches Wachstum als staatliches Ziel aufgenommen, was in der Folgezeit höchste Priorität genoß (Klein 1980: 7ff.).

Die niederländische Regierung setzte nach dem Zweiten Weltkrieg auf eine aktive Wirtschaftspolitik, deren Ziel der Aufbau einer modernen Exportwirtschaft und die Entwicklung des Dienstleistungssektors war. Die Niederlanden wurden in das europäische Wirtschaftssystem integriert, und die Bundesrepublik Deutschland wurde zum wichtigsten Handelspartner (Zahn 1993: 310). Die Vorstellung einer steuerbaren Wirtschaft schlug sich in den Niederlanden ebenso wie in vielen anderen Industrienationen zu dieser Zeit in der Politik nieder. Der Keynsianismus war die vorherrschende makroökonomische Leitidee. Im Kern geht die keynesianische Lehre davon aus, daß der Anpassungsprozeß einer Volkswirtschaft an ihr potentielles Sozialprodukt auf der Variation der Ausgabetätigkeit beruht. Löhne und Preise hingegen, die in der klassischen Auffassung durch ihre Flexibilität und rasche Anpassungsfähigkeit als Regulierungsmechanismus dienen, werden als relativ starr betrachtet, so daß sie gemäß der keynesianischen Lehre an der Wirklichkeit scheitern. Als wirtschaftspolitische Empfehlung sieht das keynesianische Modell eine aktive Rolle des Staates im Bereich der Geldmengenpolitik und der Ausgabentätigkeit vor (Samuelson/Nordhaus 1987: 243ff.).

Der kurze Ausflug in theoretische makroökonomische Gefilde ist bei der Betrachtung der niederländischen Wirtschaftsentwicklung deshalb angebracht, weil die Wirtschaftspolitik der Niederlande bis weit in die 70er Jahre hinein auf einer keynsianischen Auffassung beruhte, und Fehlentwicklungen der 60er und 70er Jahre vor diesem Hintergrund besser zu verstehen sind.

Entsprechend ihrem wirtschaftstheoretischen Paradigma und dem festen Glauben an die Planbarkeit der Wirtschaftsentwicklung existierten in den Niederlanden Regelungen, die aus heutiger Sicht nur schwer nachzuvollziehen sind. So gab es bis in die 60er Jahre hinein strenge Lohn- und Preiskontrollen. Bis zu dieser Zeit war für alle Tarifvereinbarungen und Preiserhöhungen die staatliche Zustimmung notwendig. Es war die Strategie der Regierung, durch eine hohe Exporttätigkeit für Wirtschaftswachstum zu sorgen. Statt mit Schutzzöllen zu operieren, schaffte man sich gegenüber ausländischen Konkurrenten einen Wettbewerbsvorteil, indem man die Löhne sehr niedrig hielt. Durch diese Politik machten sich die Niederlande sehr anfällig für negative Einflüsse einer schwankenden Weltwirtschaft (Zahn: 313).

Bis in die 60er Jahre hinein waren die Niederländer mit ihrer Wirtschaftspolitik recht erfolgreich. Es war gelungen, eine konkurrenzfähige Industrie aufzubauen. Der Außenhandel florierte. Auf dem Arbeitsmarkt herrschte de facto Vollbeschäftigung, und eine hohe Arbeitsdisziplin war gegeben (Zahn: 317). Eine konsensorientierte Wirtschaftspolitik endete Anfang der 60er Jahre. Nachdem die Lohnzurückhaltung bis in die frühen 60er Jahre außergewöhnlich groß gewesen war, kam es 1962 zum "großen Knall". Es war mehr Arbeit vorhanden als von den Betrieben mit ihrer Belegschaft bewältigt werden konnte. Daraufhin beschafften sich die Unternehmen Arbeitskräfte bei teilweise illegalen Leiharbeitsvermittlern. Als die Leiharbeitnehmer mehr verdienten als die eigenen Arbeitnehmer, begannen Unruhen in den Betrieben, was die Gewerkschaften in den Folgejahren zu extrem hohen Lohnforderungen veranlaßte. Lohnerhöhungen von über zehn Prozent waren keine Seltenheit (van Empel: 11). Mit der Lohnexplosion und der langsamen Abkehr von der konsensorientierten Wirtschaftspolitik war die erste Phase nach dem Krieg beendet.

 

3.2 Erdgas, Sozialstaatsexpansion und "Dutch Disease"

Die 70er Jahre waren in den westlichen Industrieländern von zwei schweren Ölkrisen und rezessiven Entwicklungen geprägt. Die Exportnation Niederlande, deren Exportanteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) 1972 mit 45 Prozent einen gewaltigen Anteil ausmachte, wurde durch die Nachfrageausfälle aus dem Ausland besonders hart getroffen. Die Regierung unter dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten van Uyl legte ihr Hauptaugenmerk auf Beschäftigungssicherung, Belebung der Inlandsnachfrage sowie einer zurückhaltenden Lohn- und Preispolitik. Da sich die Politik der niederländischen Zentralbank jedoch ausschließlich an der Stabilität des Geldwertes orientierte, wurde die Regierungspolitik auf diese Weise konterkariert (Hannemann 1997: 161).

Aufgrund ihrer Erdgasvorkommen hatten die Niederlanden gegenüber anderen Industrienationen einen großen Vorteil. Man war im Bereich der Energiewirtschaft praktisch autark, während andere Länder massiv unter den Folgen der Ölkrise zu leiden hatten. Doch aufgrund einer verfehlten Politik wurde diese historische Chance zu einem Bumerang. Anstatt die Erdgaserlöse der Reorganisation des Produktionsapparats zuzuführen und somit die mittel- und langfristige Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, wurden sie praktisch ausschließlich für konsumptive Zwecke verwand. Die Niederlande nutzten die zur Verfügung stehenden Mittel, um den Sozialstaat weiter auszubauen (Zahn: 353ff.). Hinter dem Begriff "Dutch Disease" verbirgt sich eine Vorgehensweise, bei der die Niederländer Mittel, die ihnen unerwartet durch die Erdgasentdeckung in den Schoß fielen, zur Finanzierung permanenter staatlicher Aufwendungen verwendeten (Metze nach Andeweg/Irwin 1993: 208).

Das niederländische BSP begann in jener Zeit um den Wert der Erdgasproduktion zu wachsen, und schon bald wuchs die Erdgasförderung stärker als die übrigen Industriebereiche. Da die Erlöse aus der Erdgasförderung dem Staat zufielen, kam es zu einer deutlichen Verschiebung der Kaufkraft zugunsten des Staates. Die niederländische Wirtschaft wurde immer stärker von der Energiewirtschaft dominiert. Die Inlandsinvestitionen nahmen ab, während gleichzeitig öffentliche Dienste ausgebaut wurden. Nachdem sich die Energiekosten für die Unternehmen verteuerten und zusätzlich die Lohnkosten in die Höhe schnellten, geriet der privatwirtschaftliche Sektor in eine schwere Krise. Es kam zu zahlreichen Unternehmenszusammenbrüchen, und einige Branchen verschwanden fast ganz von der Bildfläche. 1982 schrieben 40 Prozent aller privatwirtschaftlichen Unternehmen rote Zahlen. Die Reduktion der Arbeitsplätze im privaten Sektor wurde durch den Aufbau von Arbeitsplätzen im öffentlichen Sektor zu kompensieren versucht (Zahn: 354). Dennoch gelang es nicht, die negative Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt zu stoppen. Zu den strukturellen Problemen und der wirtschaftlichen Stagnation gesellte sich ein erhöhtes Potential an Erwerbspersonen, verursacht durch eine deutliche Zunahme der weiblichen Erwerbspersonen (Hannemann: 165). Nachdem bis weit in die 70er Jahre Vollbeschäftigung geherrscht hatte (1973 betrug die Arbeitslosenquote rund drei Prozent), nahm die Arbeitslosigkeit fortan stetig zu und erreichte 1982 einen Wert von 12,4 Prozent (OECD Labour Force Statistics 1980-85).

Symptomatisch für diese Phase der niederländischen Wirtschaftsentwicklung war, daß die Konsensökonomie nicht mehr funktionierte. Bereits 1974 war vom CPB ein Lösungsvorschlag formuliert worden, das sogenannte Vintaf-Modell. Aufgrund der Tatsache, daß sich Gewerkschaften und PvdA auf der einen Seite nicht mit den neoliberal orientierten Kräften auf der anderen Seite einigen konnte, konnte das Modell nicht realisiert werden (Hannemann: 162). In dieser Phase kam so gut wie kein zentrales Abkommen zwischen den wirtschaftlichen Akteuren zustande.

3.3 Die Wende von Wassenaar und das "Beschäftigungswunder"

Das Jahr 1982 markiert den Wendepunkt in der wirtschaftlichen Entwicklung der Niederlande. Im November formierte sich unter Ruud Lubbers (CDA) eine Koalition aus CDA und VVD, was gleichbedeutend war mit der Hinwendung zu einer neoliberalen Wirtschaftspolitik. Die neue Regierung trat programmatisch mit Zielen an wie der Zurückführung des öffentlichen Sektors, Dezentralisierung, Deregulierung und Privatisierung (Andeweg/Irwin: 1993). Auch Kürzungen des sozialen Sicherungssystems in Form von Reduzierung der Mindestlöhne und Veränderungen der Erwerbsunfähigkeitsrente sowie der Arbeitslosenversicherung waren Bestandteile der neuen Regierungspolitik (Hannemann: 169). Die Gewerkschaften stimmten einer Abkehr von der Lohnindizierung zu.

Nicht nur die Regierung, sondern auch Gewerkschaften und Arbeitgebervertreter wußten um die Brisanz der Situation, in der sich die Niederlande befanden. Die Bereitschaft zur gemeinsamen Analyse und zu einem gemeinsamen Weg aus der Krise manifestierte sich schließlich im Abkommen von Wassenaar. Damit war der Faden der Konsensökonmie wieder aufgenommen. Unter der Leitung des ehemaligen Shell-Managers Wagener nahm eine weitere Kommission ihre Arbeit auf. In dieser dachten Regierung, Arbeitgeber und Gewerkschaften wieder an einem Tisch über die wirtschaftliche Zukunft des Landes nach.

Die wirtschaftspolitische Neuorientierung wurde auch in der Thronrede der Königin im Herbst 1983 hervorgehoben. Auch psychologisch galt es, in der niederländischen Gesellschaft einen Veränderungsprozeß in Gang zu setzen. In jener Phase herrschte stark verteilungsorientiertes Denken in der Bevölkerung vor. Es mußte die Einsicht erzeugt werden, daß die Einkommen, deren Verteilung die Menschen bewegte, zunächst verdient werden müssen (Zahn: 359f.).

Die wesentlichsten Maßnahmen, die auf dem Abkommen von Wassenaar beruhten und in der Folgezeit die wirtschaftliche Entwicklung bestimmten, waren Lohnzurückhaltung, Arbeitszeitverkürzungen und eine aktive Beschäftigungspolitik (Schettkat 1997: 810). Im Zeitraum zwischen 1982 und 1997 stiegen die Reallöhne in der niederländischen Industrie um fünf Prozent. Im selben Zeitraum stiegen die Industrielöhne der deutschen Kollegen real um 40 Prozent (Schettkat: 809). Im Bereich der Arbeitszeitregelung sind zwei Maßnahmen von fundamentaler Bedeutung: Zunächst ist die Teilzeitoffensive zu nennen, die in den vergangenen 15 Jahren das Gesicht der niederländischen Arbeitsgesellschaft radikal verändert hat. Besonders ausgeprägt ist die Teilzeitbeschäftigung im Dienstleistungsbereich und im öffentlichen Sektor. Des weiteren begannen in dieser Zeit umfangreiche Frühverrentungsprogramme. Auch Einschnitte ins soziale Sicherungssystem wurden als Teil des Maßnahmenbündels zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vorgenommen (Andeweg/Irwin: 193ff.).

 

3.4 Das Beschäftigungswunder – eine kritische Bilanz

Fünfzehn Jahre nach der Wende von Wassenaar weist die niederländische Wirtschaft Zahlen auf, die andere europäische Länder vor Neid erblassen lassen. Mit einer Arbeitslosenquote von 4,6 Prozent im Februar 1998 sind die Niederländer im europäischen Vergleich ein absoluter Primus. Lediglich Luxemburg und Österreich weisen eine noch geringere Arbeitslosenquote auf. Während in den Niederlanden immer noch ein positiver Trend vermeldet wird, erreichen Arbeitslosenquoten in Deutschland (10 %) und Frankreich (12,1 %) negative Höhen (Eurostat 1998).

Auch andere Wirtschaftsindikatoren lassen die Niederlande in einem positiven Licht erscheinen: Nach wie vor kann auf eine positive Handelsbilanz verwiesen werden, der Gulden ist an Stabilität kaum zu übertreffen, und auch das Staatsdefizit konnte 1997 weiter abgebaut werden (Eurostat 1998). Daneben hat die Erwerbsquote in den Niederlanden mit über 75 Prozent bei den Männern und rund 55 Prozent bei den Frauen Werte erreicht, die etwa fünf Prozent über dem europäischen Durchschnitt liegen und allenfalls noch von den skandinavischen Ländern übertroffen werden. Dies ist um so bemerkenswerter, wenn man die Entwicklung betrachtet, die in den Niederlanden in den vergangenen 25 Jahren zu verzeichnen ist. Besonders auffällig ist dabei die Steigerung der Frauenerwerbsquote. Waren in den frühen 70er Jahren nicht einmal 30 Prozent der erwerbsfähigen Niederländerinnen in den Arbeitsprozeß integriert, zeigt die Statistik für 1996 einen Anteil von 55 Prozent auf. Damit haben sich die Niederlande im europäischen Vergleich von einem deutlich unterdurchschnittlichen auf einen überdurchschnittlichen Wert verbessert (OECD 1996/97). Dieser Wert ist im Zusammenhang mit der Entwicklung der Arbeitslosenquote noch eindrucksvoller, weil die deutliche Senkung der Arbeitslosenquote parallel zu einem - aufgrund der Frauenerwerbsentwicklung - stark gestiegenen Arbeitskräfteangebot erreicht wurde. Zwischen 1983 und 1988 wurden in den Niederlanden eine Vielzahl neuer Arbeitsplätze geschaffen – deutlich mehr als in Deutschland, Frankreich oder Japan (Andeweg/Irwin: 194).

Trotz dieser eindrucksvollen Zahlen gibt es Stimmen, die das "Jobwunder" der Niederlande kritisieren oder zumindest stark relativieren. Kritiker des niederländischen Modells führen vor allem an, daß ein nicht unerheblicher Teil der Niederländer (gesprochen wird von über 1,5 Mio.) von der Statistik nicht erfaßt würden. Dies betreffe vorwiegend Invaliden und Frührentner (van Empel: 15). Der Vorwurf der verdeckten Arbeitslosigkeit kann in der Tat nicht vollständig entkräftet werden. Dem kann jedoch entgegengehalten werden, daß es auch in anderen Ländern unterschiedliche Definitionen von Arbeitslosigkeit gibt. Diskussionen dieser Art sind immer schwierig und werden solange existieren, bis auf internationaler Ebene eine einheitliche Statistik verankert ist. Damit ist das Argument zwar nicht verschwunden, aber es kann auch nicht als K.O.-Kriterium für die Bewertung der niederländischen Entwicklung angebracht werden. Festgehalten werden kann, daß die registrierte Arbeitslosigkeit zwar gering ist, aber andere Formen der Erwerbslosigkeit existieren.

Eindeutig widerlegt werden kann jedoch die Annahme, daß das Arbeitsvolumen in den Niederlanden zugenommen habe. Es liegt etwa auf dem Niveau von 1970 (van Empel: 16). Eine niederländische Erwerbsperson arbeitete im Jahr 1996 durchschnittlich 1.372 Stunden. In der Bundesrepublik betrug die durchschnittliche Arbeitszeit 1.508, in den USA gar 1.951 Stunden (Becker 1998: 15). Dies ist ein eindeutiger Hinweis darauf, daß die niedrige Arbeitslosenquote in den Niederlanden vor allem aufgrund der außergewöhnlich hohen Verbreitung von Teilzeitstellen erreicht wurde.

Es muß weiterhin bezweifelt werden, ob die niederländische Arbeitsmarktpolitik die Reintegration von Langzeitarbeitslosen genügend berücksichtigt. Annähernd 50 Prozent der Arbeitslosen sind Langzeitarbeitslose. Damit ist dieser Anteil in den Niederlanden fünfmal so hoch wie in den USA. Die Umverteilung der Arbeit zugunsten jüngerer und damit auch produktiverer Arbeitskräfte kann beobachtet werden. Gleichzeitig ist der Anteil der Frührentner und der Empfänger von Invalidenrenten in den Niederlanden deutlich höher als in anderen europäischen Ländern. Auch bei der Zahl der Sozialhilfeempfänger und den Empfängern von Arbeitslosengeld muß seit 1983 eine Steigerung um ca. zehn Prozent verzeichnet werden (Becker: 15).

Ein eindeutiges Urteil zum Beschäftigungswunderland Niederlande ist nur insofern zu treffen, als daß die Welt etwas komplizierter ist, als es Schlagworte oder Superlative vermuten lassen. Eine differenzierte Betrachtung macht einige Schwachstellen des niederländischen Weges deutlich. Dennoch bleiben positive Aspekte bestehen, die in anderen europäischen Volkswirtschaften nicht zu erkennen sind. So bescheinigt Schmid den Niederlanden "eine im Ansatz erfolgreiche Beschäftigungsstrategie", die durch massive Arbeits- und Einkommensumverteilung erreicht wurde (Schmid 1996: 35). Auch Schettkat kommt zu einer positiven Bewertung, indem er auf die erhöhte Beschäftigungsquote verweist. Den Niederlanden sei es unter dem Motto "vom Verteilen zum Verdienen" gelungen, mit einer aktiven Beschäftigungspolitik eine stärkere Integration der Bevölkerung ins Erwerbsleben zu erreichen und damit die öffentlichen Kassen zu entlasten, "ohne dies mit krasser Ungleichheit zu erkaufen" (Schettkat: 810). Schließlich bleibt festzuhalten, daß der Trend, den die niederländische Entwicklung seit geraumer Zeit aufweist, sich im internationalen Vergleich durchaus sehen lassen kann. Insbesondere im Bereich der Produktivität haben es die Niederlande aufgrund einer dauerhaft gemäßigten Lohnpolitik geschafft, ihre Stellung im internationalen Wettbewerb zu verbessern. Somit ist die Voraussetzung für Wachstum und damit auch für Beschäftigung gegeben, was heutzutage bereits als Erfolg betrachtet werden muß. Wenn der Weg das Ziel ist, dann haben die Niederlande bei allen Einwänden und statistischen Ungenauigkeiten bereits viel erreicht.

 

 

4. Die Rückkehr zum Verhandlungsmodell als Vorbild

Was kann man nun wirklich von den Niederlanden lernen? Bei der Betrachtung der wirtschaftlichen Entwicklung der Niederlande seit dem Zweiten Weltkrieg fällt auf, daß immer dann Erfolge zu verzeichnen waren, wenn das Konsensmodell intakt war. In der ersten Phase, während der Industrialisierungsoffensive, funktionierten die Konsensmechanismen, und wirtschaftliche Erfolge blieben nicht aus. Als in den 60er Jahren das Konsensmodell faktisch außer Kraft gesetzt war, nahm die niederländische Wirtschaft eine gefährliche Entwicklung, die in einer schweren Krise endete. Nachdem 1982 die Rückkehr zur Konsensökonomie gelungen war, nahm die niederländische Wirtschaft eine Entwicklung, die sie heute, 15 Jahre später, im internationalen Vergleich in einem positiven Licht erscheinen läßt.

Diese Erfahrungen lassen die These zu, daß das niederländische Konsensmodell das eigentlich vorbildliche Element darstellt, weil es dazu führt, daß sich die wirtschaftliche Entwicklung näher an einem potentiellen Optimum bewegt. Oder anders ausgedrückt: Das niederländische Verhandlungsmodell ermöglicht wirtschaftspolitische Maßnahmen, welche die Wahrscheinlichkeit einer positiven Entwicklung erhöhen. Dies fällt insbesondere dann auf, wenn man einen Vergleich mit Ländern anstellt, in denen ähnliche Konstruktionen gescheitert sind. In Deutschland liegt beispielsweise das Scheitern des "Bündnisses für Arbeit" noch nicht sehr lange zurück.

Will man die aktuelle Wirtschaftslage der Niederlande verstehen und in einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang stellen, dann sollte man sich nicht damit begnügen, daß in den 80er Jahren eine Teilzeitoffensive gestartet und die Lohnkosten konstant niedrig gehalten wurden. Die Erkenntnis, daß bestimmte wirtschaftspolitische Maßnahmen bestimmbare Konsequenzen nach sich ziehen, ist nicht exklusiv in den Niederlanden vorhanden. Auch ist es nicht sehr wahrscheinlich, daß sich in den Niederlanden Wissenschaftler, Politiker und Verbandsfunktionäre besser mit Wirtschaftsfragen auskennen als in Frankreich oder Deutschland. Folglich drängt es sich auf, zu analysieren, wie sich der wirtschaftspolitische Willensbildungsprozeß im Unterschied zu anderen Ländern darstellt.

4.1 Konsensökonomie – ein typisch niederländisches Phänomen?

Warum ist Konsensökonomie gerade in den Niederlanden möglich? Versucht man, auf diese Frage eine Antwort zu finden, muß man sich auf kulturelle und historische Faktoren besinnen. Tief in der niederländischen Tradition verwurzelt sieht van Empel Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern als eine "Kombination von Kaufmann (Handelsgeist) und Pastor (christliche Soziallehre)". Vom kaufmännischen Handelsgeist haben die Niederländer die Einsicht übernommen, daß eine bestimmte Einstellung eines Handelspartners nicht als endgültiges Angebot zu verstehen ist, sondern erst den Ausgangspunkt für Verhandlungen darstellt. Dem "Pastor im Niederländer" ist Klassenkampf zuwider. Statt dessen legt er großen Wert auf die Verantwortung, die der einzelne, egal ob Unternehmer oder Arbeitnehmer, für die Gemeinschaft zu übernehmen hat (van Empel: 4).

Auch die geohistorische Entwicklung scheint in diesem Zusammenhang erwähnenswert. Den Gefahren des Meeres unmittelbar ausgesetzt, waren Seefahrer und Siedler immer auf planvolles und koordiniertes Handeln angewiesen – sei es auf See oder beim Deich- und Polderbau. Planung - und somit auch Wirtschaftsplanung - wird seit jeher als Gemeinschaftsaufgabe betrachtet (Zahn: 315).

Eine weitere Besonderheit der Niederlande kann als kulturprägende Voraussetzung für die Konsensfähigkeit angesehen werden. Die niederländische Gesellschaft ist über weite Strecken von "Versäulung" geprägt worden. Diese sozialgeschichtliche Besonderheit steht für die Koexistenz mehrerer in sich weitgehend homogener und geschlossener gesellschaftlicher Gruppen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert begann und sich bis in die 60er Jahre dieses Jahrhunderts fortsetzte. Zwar lebten die Menschen in ihrer jeweiligen Säule abgeschottet von Mitgliedern der anderen Säulen, jedoch gehörten alle dem selben Staat an. Deshalb war es erforderlich, daß sich die Eliten der verschiedenen Säulen zu regelmäßigen Konsultationen trafen. Diese Form der Kooperation auf nationaler Ebene wurde mit dem Begriff Akkomodationspolitik belegt. Zwar ist nach dem Prozeß der Entsäulung auch die Akkomodationspolitik in ihrer ursprünglichen Funktion obsolet geworden. Überdauert hat jedoch die Erfahrung, daß mit einer konsensorientierten Verhandlungspolitik "ein Staat zu machen ist". Das Streben nach Konsens ist als Wert an sich bestehen geblieben.

 

4.2 Die Rolle des Sozialökonomischen Rates im Verhandlungsmodell

Bereits zu Anfang des Textes wurden die wirtschaftlich relevanten Institutionen der Niederlande kurz eingeführt. Es wurde dabei erwähnt, daß das Modell der Konsensökonomie im wesentlichen von der Existenz des Sozioökonomischen Rates (SER), der Stiftung der Arbeit (SvdA) und den Tarifgesetzen getragen wird. Diese Aussage gilt es, etwas zu präzisieren, indem weniger die formale Struktur als vielmehr die spezifischen Wirkungsweisen untersucht werden sollen. Da dem SER gemeinhin eine prominente Rolle beigemessen wird, liegt hier das Hauptaugenmerk auf dieser in diesem Kontext wahrscheinlich wichtigsten Institution.

Als erstes eher formales Charakteristikum des SER ist der kontinuierliche Dialog zwischen Arbeitgebern, Arbeitnehmern und den von der Regierung beauftragten Sachverständigen, unter denen sich auch der Präsident der Zentralbank und der Direktor des CPB befinden, zu nennen. Allein die Tatsache, daß regelmäßige Gespräche stattfinden, determinieren die Form der Gespräche. Die Vermutung liegt nahe, daß Unterschiede in den Strategie der einzelnen Gesprächspartner existieren, wenn sie im einen Fall nur zusammentreffen, wenn eine Krisensituation akut ist bzw. es um Tarifverhandlungen geht, oder im anderen Fall die Regelmäßigkeit auch Zusammenkünfte in Situationen zuläßt, in denen es nicht unmittelbar viel zu verlieren oder zu gewinnen gibt.

Des weiteren scheint der Erfolg des SER auch darin begründet, daß alle relevanten Gruppen repräsentiert sind. Damit wirkt der SER integrierend statt polarisierend. Alle Interessengruppen können sich somit im SER als repräsentiert betrachten. Sie haben die Möglichkeit, ihre Ansichten und Interessen bereits in einer frühen Diskussionsphase in den Willensbildungsprozeß einzubringen. Das wirkt sich sehr förderlich auf die Legitimität dieses Gremiums bzw. seiner Entscheidungen aus. Solange sich alle wesentlichen Interessengruppen im SER repräsentiert fühlen, ist davon auszugehen, daß alle Entscheidungen, die der Rat trifft, auch von einer breiten gesellschaftlichen Mehrheit unterstützt werden.

Die Tatsache, daß dem SER ausgewiesene Experten angehören, spricht für eine Versachlichung der Diskussion. Anders als in der rein politischen Auseinandersetzung, in der es immer primär um einen relativen Machtgewinn gegenüber dem politischen Konkurrenten geht, geht es in einer Diskussion mit Experten eher um den sachlichen Diskurs über die beste Problemlösung. Experten genießen ihre Reputation dadurch, daß man ihnen zutraut, über bestimmte Erkenntnisse zu verfügen, über die der Nicht-Experte nicht verfügt. Expertenwissen wirkt sich in politischen Auseinandersetzungen tendenziell neutralisierend auf die Kontrahenten aus.

Auch aus sozialpsychologischer Sicht spricht einiges dafür, daß die Position der Experten im Prozeß der Gruppenentscheidung einen überproportionalen Einfluß besitzt. Dem Experten wird von den anderen Gruppenmitgliedern bei einer bestimmten Fragestellung die größte Kompetenz zugebilligt. Das bedeutet, sein Wissen wird mit einem höheren Gewichtungsfaktor versehen als das der Nicht-Experten. Damit befindet sich der (oder, wenn sie sich einig sind, die) Experten leicht in einer faktischen Majoritätsposition. Das Streben nach Konformität der anderen Gruppenmitglieder erhöht damit die Wahrscheinlichkeit, daß sich die Expertenstandpunkte durchsetzen (van Avermaet 1992: 369ff.)

Die formale Stellung des SER ist im Gesetz über die Wirtschaftsorganisation (Wet op de Bedrijfsorganisitie – WBO) von 1950 geregelt. Die wichtigste Funktion, die dem SER in der Praxis zufällt, ist die Beratung der Regierung. Nach Art. 41 des WOB hat der SER die Aufgabe, auf eigene Initiative oder auf Anfrage der Regierung Gutachten über wirtschaftliche und soziale Fragen abzugeben (Bryde: 71). Aufgrund dieser Regelung kann es sich keine Regierung erlauben, bei wichtigen Entscheidungen die Ansicht des SER zu übergehen, wenngleich sie nicht verpflichtet ist, den Empfehlungen des Rates zu folgen. Neben der rechtlichen Verankerung findet der Austausch zwischen SER und Regierung auch in traditionellen Konsultationen wie den Frühjahrs- bzw. Herbstberatungen routinemäßig statt.

Damit kann die Rolle des SER im Rahmen der Konsensökonomie der Niederlande auf folgende Formel gebracht werden: Der kontinuierliche Dialog aller im SER vertretenen Personengruppen ermöglicht einen Austausch über zukünftige Perspektiven, ohne zu sehr von Interessengegensätzen behindert zu sein. Aufgrund der Tatsache, daß im SER alle wesentlichen wirtschaftlichen Interessengruppen vertreten sind, genießen Empfehlungen des SER ein hohes Maß an Legitimität. Die Haltung des SER ist geprägt von Expertenwissen, was einer objektiv optimalen Lösung mit großer Wahrscheinlichkeit näher kommt als interessengeleitete Positionen von Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertretern bzw. der an Macht orientierten Logik politischer Parteien. Schließlich ist es der niederländischen Regierung nicht ohne weiteres möglich, Empfehlungen des SER zu übergehen. Dafür sorgt das WBO.

 

4.3 Konsensökonomie als Krisenmodell auf Zeit?

Betrachtet man die niederländische Wirtschaftsgeschichte der Nachkriegszeit, kann man eine Entwicklung in drei Phasen ausmachen: Die erste Phase der Industrialisierung und des wirtschaftlichen Aufschwungs, die zweite Phase der Lohnexplosion, des ausufernden Sozialstaates sowie der Massenarbeitslosigkeit und schließlich die dritte Phase, verbunden mit dem Umbau des Sozialstaates, einer Teilzeitoffensive, zurückhaltender Lohnpolitik und der Reduktion der Arbeitslosigkeit. In den Phasen, in denen eine positive Wirtschaftsentwicklung zu verzeichnen war, hat das Modell der Konsensökonomie jeweils funktioniert. In der Phase des wirtschaftlichen Abstiegs war das Verhandlungsmodell außer Kraft. Daran schließt sich die Frage an, wie es Anfang der 80er Jahre den wirtschaftspolitischen Akteuren gelingen konnte, das Konsensmodell wieder zum Leben zu erwecken.

Sicherlich spielt hier die korporatistische Tradition der Niederlande eine Rolle. Es ist leichter, auf einem Instrument zu spielen, das man schon einmal gut beherrscht und nur für einige Zeit in die Ecke gestellt hat, als ein Instrument neu zu lernen. Als Anlaß für das Wiederaufleben des Verhandlungsmodells kann als zweiter wichtiger Faktor der immens große Problemdruck angeführt werden, der in den Niederlanden in den frühen 80er Jahren empfunden wurde. Daneben hat sich in jener Zeit auch der grundsätzliche Richtungsstreit zwischen einer keynesianischen und neoliberalen Wirtschaftspolitik zugunsten der letzteren entschieden Folgt man jedoch dieser Logik, stellt sich die Frage, ob das Modell der Konsensökonomie nur in Krisenzeiten seine Wirkung entfaltet. In der Tat spricht einiges dafür. Die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg war eindeutig eine Krisensituation, die ein gemeinsames Vorgehen aller gesellschaftlicher Gruppen nahelegte. In den 60er Jahren, als die Mission "Industrialisierung" erfüllt war und allgemeiner Wohlstand herrschte, zerbrach das Modell jedoch. Zwar bestanden Institutionen wie der SER oder die SvdA fort, aber es gelang ihnen in jener Zeit nicht, einen wirtschaftspolitischen Kurs zu entwickeln, der auf ungeteilte Zustimmung stieß und von allen Kräften unterstützt werden konnte. Wie bereits erwähnt, bedurfte es auch Anfang der 80er Jahre zunächst einer tiefen Krise, damit das Konsensmodell wieder zu funktionieren begann.

Eine allgemeingültige Regel läßt sich natürlich aus den drei Fällen nicht ableiten. Dennoch scheint kooperatives Verhalten unter Akteuren, die sich in einer schwierigen Situation befinden, wahrscheinlicher, als wenn kein Problemdruck besteht. Allerdings existiert auch so etwas wie eine Norm zur Kooperation. Diese ist in den Niederlanden vergleichsweise stark ausgeprägt. Daraus kann die These abgeleitet werden, daß Problemdruck eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für ein konsensorientiertes Verhandlungsmodell darstellt. Vielmehr bedarf es zusätzlich zum Problemdruck Faktoren wie einer Kooperationsnorm und einem entsprechenden institutionellen Rahmen.

 

5. Resümee

Die wirtschaftliche Entwicklung der Niederlande nach dem Zweiten Weltkrieg ist in drei großen Phasen verlaufen. Nach einer Aufschwungsphase bis in die 60er Jahre hinein, machten sich in den 70er Jahren in der niederländischen Wirtschaft Krisenerscheinungen deutlich, die ihren Höhepunkt zu Beginn der 80er Jahre hatten. Seit dieser Zeit wurde mit Hilfe einer Ausweitung der Teilzeitarbeit, einer außerordentlich zurückhaltenden Lohnpolitik und dem Umbau des Sozialstaats die Situation der niederländischen Wirtschaft sukzessive verbessert. Alle wesentlichen Wirtschaftsindikatoren der Niederlande stellen sich heute im internationalen Vergleich positiv dar. Insbesondere die Beschäftigungssituation der Niederlande wird häufig als beispielhaft bezeichnet. Auch wenn beim genaueren Hinsehen einige Schatten auf der scheinbar blütenweiße Arbeitsmarktweste sichtbar werden, muß man dieser Entwicklung grundsätzlich Respekt zollen. Dabei ist das eigentlich einzigartige des niederländischen Weges nicht in erster Linie der Abbau der Arbeitslosigkeit durch eine Ausweitung der Teilzeitarbeit und einer gemäßigten Lohnpolitik, sondern die Basis auf dieser solche wirtschaftspolitischen Maßnahmen erst möglich sind – die konsensorientierte Haltung aller wesentlichen wirtschaftspolitischen Akteure.

Die kulturellen Wurzeln der sogenannte Konsensökonomie der Niederlande reichen weit in die Geschichte des Landes zurück. Aber auch auf institutioneller Ebene ist das niederländische Verhandlungsmodell durch die Tarifgesetzgebung und Organisationen wie der Stiftung der Arbeit und dem Sozialökonomischen Rat abgesichert. Insbesondere dem Sozialökonomischen Rat wird in diesem Zusammenhang eine erhebliche Bedeutung beigemessen.

Im Verlauf der Nachkriegsentwicklung hat die konsensorientierte Wirtschaftspolitik unterschiedliche "Konjunkturphasen" durchlebt. Das niederländische Verhandlungsmodell funktionierte immer dann am besten, wenn die Krise am größten war. Die sich an diese Beobachtung anschließende Frage ob das Konsensmodell ein Krisenmodell ist, kann nicht abschließend beantwortet werden. Es wird die These aufgestellt, daß die Stärke des Problemdrucks eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Funktion des Konsensmodells ist. Wirtschaftliche Probleme existieren auch in anderen, mit den Niederlanden vergleichbaren Ländern, ohne daß sich vergleichbare Willensbildungsstrukturen entwickelt hätten. Deshalb, so der zweite Teil der These, ist neben dem Problemdruck die Verhandlungskultur der Niederländer sowie die Existenz eines institutionellen Rahmens die notwendige Bedingung.

Die Bewertung wirtschaftlicher Daten besteht zumeist in einem Vergleich mit anderen Ländern bzw. dem Vergleich mit der eigenen Vergangenheit. Zwei Einflußgrößen liegen der Wirtschaftslage eines Landes zugrunde: Eine allgemeine Konjunkturelle Entwicklung bzw. der Einfluß der Weltwirtschaft auch der einen und eigene wirtschaftspolitische Maßnahmen auf der anderen Seite. Während externe Einflüsse, wie die Entwicklung der Weltwirtschaft nicht steuerbar sind, steht einem Land ein bestimmtes wirtschaftspolitisches Instrumentarium zur Verfügung, mit dem es in der Lage ist, die Entwicklung in bestimmten Grenzen zu beeinflussen. Ausgehend von der Annahme, daß es für die spezifische Situation einer Volkswirtschaft eine "optimale" Wirtschaftspolitik gibt, die sich an den jeweiligen Zielen orientiert, dann gilt es, jene Maßnahmen zu ergreifen, die im Rahmen des Machbaren einen optimalen Zustand herbeiführen. Die Schwierigkeit besteht weniger darin, die optimalen Maßnahmen zu identifizieren, als vielmehr, Einigkeit unter den wirtschaftlichen Akteuren bezüglich der Umsetzung dieser Maßnahmen zu erzeugen.

Der Verlauf der niederländischen Wirtschaftsentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg hat deutlich gemacht, daß immer wenn es gelang, in wirtschaftspolitischen Fragen Konsens unter den beteiligten Kräften zu erzeugen, eine Annährung an ein potentielles Optimum zu erreichen. Zur Zeit liegt der frühere "kranke Mann Europas" im Vergleich mit seinen Konkurrenten wieder ganz gut im Rennen.

 

 

 

Literaturverzeichnis

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