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" ..., und weil ich gern Aufsätze schreibe, sollte ich für die nächste Deutschstunde eine Beschreibung des Schulausflugs machen."[1]


Die Jüdin Netty Reiling schreibt diesen Aufsatz. Sie schreibt ein Bekenntnis, ein Bekenntnis ihres Herzens. All den Schmerz, das seelische und körperliche Leid, welches ihr widerfahren ist versucht sie erzählend zu überwinden.[2]
Es bleibt ein Versuch.
Eine Landschaft aus graubraunen Bergabfällen, die einem Totenreich gleichen, "die kahl und wild wie ein Mondgebirge durch ihren bloßen Anblick jeden Verdacht abwiesen, je etwas mit Leben zu tun gehabt zu haben.", sucht sie sich aus, um mit dem Erzählen ihrer Geschichte zu beginnen.
Eine Gegend weit weg von der Heimat, die nichts an Vertrautheit vermittelt, in der nichts blüht, nichts gedeiht, nichts duftet. Im Gegenteil: Diese Gegend besteht aus brennenden Bäumen, aus glühenden Pfefferbäumen, einer völlig öden Schlucht. Es ist "das vollkommene Nichts".
Die Erzählerin ist erschöpft. Sie ist erschöpft von den unzähligen Strapazen der letzten Zeit: "Ich hatte Monate Krankheit gerade hinter mir, [...]".
Sie schreibt indirekt von einer Ironie des Schicksals: "Wie es bisweilen zu gehen pflegt, die Rettungsversuche der Freunde hatten die offensichtlichen Unglücke von mir gebannt und versteckte Unglücke beschworen"[3].
Netty ist unterwegs, um ein im Tal erspähtes Rancho, welches von einer weißen Mauer umgeben ist, näher zu betrachten. Sie hatte sich aus ihrem Quartier in den Bergen aufgemacht um ihre Neugier zu stillen.
Es ist aber schon lange nicht mehr diese " Lust auf absonderliche, ausschweifende Unternehmungen" die sie früher beunruhigte. Das Einzige, was sie noch mit Unruhe erfüllen könnte, mit einer Unruhe die sie anspornen könnte, wäre die Heimfahrt.
Das Rancho und die ganze Gegend liegen in einem flimmrigen Dunst, von dem sie nicht weiß, ob er aus Sonnenstaub oder aus eigener Müdigkeit besteht.[4] Die Müdigkeit ihrer Augen ist ihr zuwider. Sie will sehen, was sie umgibt, wohin sie das Schicksal verschlagen hat. Von der Bank aufstehend, verraucht der Dunst ein wenig.
Sie geht weiter, immer auf das Rancho zu. Ihren Weg säumt ein Hund , der nicht mehr zu leben scheint. Er liegt in dieser toten Landschaft wie ein Kadaver, "völlig reglos, mit Staub bedeckt".
Der Eindruck von absoluter Farblosigkeit, von gähnender Stille und erdrückender Todesahnung, den die Erzählerin mit einer Stimme vermittelt, die durch das Lesen des Textes zu hören ist: knöchern, müde, durstig und leer, gibt dem Leser das Gefühl, seine Füße neben die der Erzählerin zu setzen; dieses tote Stück Land selbst zu sehen und zu fühlen, zu fühlen wie es das Leben von sich abstößt, wie es Netty verständlich machen will, das hier zu sein, im Sterben zu sein bedeutet.
"Es schimmerte grün hinter der langen weißen Mauer."
Es schimmert grün. Es ist die dritte Farbe, die so genau benannt wird. Könnte es nicht sein, das die Erzählerin mit diesen Farben etwas ausdrücken möchte?
Diese öde Landschaft wird durch drei Farben bestimmt: Das Graubraun der Bergabfälle, das Weiß der Mauer und das Grün, das sie hinter der Mauer sieht. Ist es nicht möglich, das die Autorin an dieser Stelle eine Charakterisierung ihrer momentanen Situation wiedergibt? Die graubraunen Bergabfälle, die das Hauptmerkmal dieser toten Landschaft sind, könnten gleichgesetzt werden mit der Farbe braun, die für die Nazis und den Faschismus steht: Ihr momentaner Lebensraum, das Exil, wird eingegrenzt durch den Machtbereich der Nazis. Sie sind überall präsent: bedrohend und steil, kaum bezwingbar. Das Weiß der Mauer: unschuldig und rein steht es in dieser Einöde. Will es etwas friedliches vermitteln, etwas das unzerstörbar ist: Nettys Kindheit bzw. Schulzeit, oder zumindest die Erinnerung an diese? Erinnerungen kann niemand zerstören, sie existieren für immer.[5] Und das Grün, welches durch die Mauer eingegrenzt ist? Könnte es die Hoffnung sein, das sich alles zum Guten wenden wird. Der kindliche Glaube an den Sieg des Guten über das Böse, der in jedem Menschen erhalten bleibt, tritt an dieser Stelle bei Netty zu Tage und läßt die Hoffnung auf bessere Zeiten in ihr aufkeimen.
Inmitten dieser bedrohenden Landschaft aus graubraunen Bergabfällen, umgeben von einer reinen weißen Mauer, schimmert das Grün der Hoffnung.
"Wahrscheinlich gab es einen Brunnen oder einen abgeleiteten Bach, der das Rancho mehr bewässerte als das Dorf."
Sie hofft auf Wasser. Wasser steht für Leben. Leben in dieser steinernen Starre? Bedeutet Wasser nicht aber auch Natur, blühende Felder und duftende Blumen am Wegesrand; und hohe Gräser an den Ufern von Bächen und Flüssen, an dem Fluß, am Rhein, der für Netty Heimat bedeutet; also das bedeutet, das sie sehnlichst vermißt und das ihr ganzes Denken beherrscht.
Sie geht weiter und nähert sich dem Tor des Rancho.

"Doch gab es im Torbogen noch die Reste eines von unzähligen Regenzeiten verwaschenen Wappens. Die Reste des Wappens kamen mir bekannt vor wie die steinernen Muschelhälften, in denen es ruhte."

Das Wappen ruht in Muschelhälften. Es ist eine geöffnete Muschel, in der das Wappen ruht: Muscheln stehen für Gewässer. Für Meere ebenso wie für große Flüsse - wie für den heimatlichen Rhein. Das Wappen kommt ihr bekannt vor. Es könnte für eine Stadt stehen: vielleicht für Mainz? Ein bekanntes Wappen (Mainz) ruht in Muschelhälften (Zeichen für den Rhein). Liegt hier nicht die Vermutung nahe, daß es sich um eine sehnsuchtsvolle Erinnerung an die friedliche Heimat (das Wappen ruht) handelt? Es symbolisiert den Wunsch, etwas heimatliches zu finden.

Immer mehr wächst die Hoffnung, daß hinter diesem Tor Leben ist. Es wächst die Hoffnung, daß hinter diesem Tor etwas anderes auf sie wartet; etwas das mit diesem Totenreich, mit dieser verdorrten Landschaft ohne jeglicher Vermutung von Leben, mit ihrer jetzigen Situation also - im Exil, weit weg von der Heimat, ohne Freunde, allein - nichts zu tun hat. Die Hoffnung auf etwas, das meilenweit von ihrem jetzigen Ort entfernt ist: die Heimat.

Das Motiv des Tores symbolisiert die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen zwei Welten, die gar nicht gegensätzlicher sein könnten: zwischen Tod und Leben, Realität und Vision.[6]

Netty tritt in das leere Tor.
" ... das leere Tor." Das Stehen von Netty in diesem Tor wird nicht beschrieben. Es ist ein leerer Ort ohne jegliche Charakterisierung; der einzige Ort der Erzählung, der keine Beschreibung erhält, keine Farbe, kein Zeichen von Existenz, nur die bloße Nennung: " ... das leere Tor.".
Warum steigert Netty ihr Erzählen bis zu diesem Punkt, steigert die Aufmerksamkeit des Lesers, erzeugt Spannung, um dann das Tor - das Tor dieses Rancho, das schon in den Bergen ihre Neugier erweckt hatte (wegen dieses Rancho war sie heruntergestiegen, hatte sich trotz ihrer Müdigkeit auf den Weg gemacht), als "leer" zu bezeichnen?
Netty will dem Leser durch diese nüchterne Benennung zeigen, daß ihre Neugier, die anfangs dem Rancho und der weißen Mauer (deren Bestandteil das Tor ja ist) galt, nun ganz allein auf das Dahinter, auf das Kommende, das sie Erwartende gerichtet ist.
"Ich hörte jetzt inwendig zu meinem Erstaunen ein leichtes, regelmäßiges Knarren. Ich ging noch einen Schritt weiter. Ich konnte das Grün im Garten jetzt riechen, das immer frischer und üppiger wurde, je länger ich hineinsah."
Netty betritt das Rancho und gewahrt das, was sie vermutet hatte: Hier ist es grün, hier existiert Leben, hier gedeihen Pflanzen. Je intensiver sie in das üppige Grün hineinsieht, desto intensiver wird der Geruch. Sehen und Riechen[7], zwei der intensivsten Sinne, werden für Netty zum Beginn des Ausflugs, von dem sie in diesem Moment noch nichts ahnt. Er wird sie in eine Welt zurückführen, die gar nicht mehr existiert, real nicht mehr existiert, aber im Kopf des jüdischen Mädchens Netty Reiling, Schülerin an einer Mainzer Mädchenschule in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg.
"Netty!"
In diesem Augenblick ist der Schritt in die Vergangenheit getan. Sie vernimmt den Namen, mit dem sie "seit der Schulzeit niemand mehr gerufen" hatte. Gleich darauf gibt Netty einen kurzen Einblick in den Verlauf ihres Lebens, beginnend bei der Schulzeit bis zum momentanen Zeitpunkt. Aber nicht in der Form einer chronologisch datierten Folge, sondern literarisch geschickt mit dem Motiv ihres Namens versponnen.
"Ich hatte gelernt, auf alle die guten und bösen Namen zu hören, mit denen mich Freunde und Feinde zu rufen pflegten, die Namen, die man mir in vielen Jahren in Straßen [und hier beginnt der oben erwähnte Einblick - Anm. d. Verf.] , Versammlungen, Festen, nächtlichen Zimmern, Polizeiverhören, Büchertiteln, Zeitungsberichten, Protokollen und Pässen beigelegt hatten."
Der Name Netty steht für die Jugend, für die Zeit als sie bei seinem Klang "mit beiden Fäusten nach meinen Zöpfen" griff. Ihre Zöpfe waren "also doch nicht im Krankenhaus abgeschnitten" worden.
Hier taucht zum ersten Mal sehr deutlich die Überlagerung von zwei unterschiedlichen Zeitebenen auf: Die Zeit, da Netty noch Zöpfe besaß und dann die Zeit, während der sie im Krankenhaus war und man ihr die Zöpfe abgeschnitten hatte. Es verschieben sich die Zeitebenen, zu einem surrealistischen Bild, zu einer Momentaufnahme der Gedanken, die sich durch den Namen Netty (Schulzeit, Kindheit) und den eigentlichen momentanen Ort (Exil: Mexiko) kennzeichnen läßt. Sie entwirft ein Bild mitten auf einem Zeitstrahl, der aus ihrer Schulzeit heraus wächst und im bis eben gültigen "Jetzt" verweilt: Denn ab diesem Zeitpunkt begibt sich der Leser mit auf den Ausflug von Netty.
Er begibt sich mitten hinein in eine Welt, bestehend aus nicht verarbeiteten persönlichen Erlebnissen, aus Gedanken, die voll sind von Traurigkeit über Ereignisse, die Netty nicht verhindern konnte - in die Welt der Vergangenheit, die auf einem anderen Kontinent mit Netty begann, anwuchs , sich entwickelte und schließlich als faschistisches Ungetüm ausbrach. Es zerstörte das Leben der Familie, die vertrauten Bilder von Freunden und Bekannten zermalmte und erschien als endgültig. - Und sie? Netty hatte vor allem fliehen müssen, ins Exil.
Da war er nun dieser Name. Er kam von einer Wippschaukel, die auf einem Baumstumpf festgenagelt war. Ringsherum glänzen Butterblumen, wachsen Hagebuttenbüsche, Löwenzahn und Storchschnabel. "Dazwischen gab es auch bräunlichrosa Büschel von Zittergras, das schon beim Hinsehen bebte."
Auf der Schaukel sitzen Leni und Marianne, "meine zwei besten Schulfreundinnen".
Der Leser erfährt das Leni eine starke Falte auf ihrer Stirn hat. Diese Falte, die einer Linie gleichend, den Leser durch das weitere Leben dieses Mädchens führt, macht Netty zum stärksten Charakteristikum der Leni. Sie wundert sich, "wieso man Lenis Gesicht gar keine Spur von den grimmigen Vorfällen anmerkte, die ihr Leben verdorben hatten.[...]Ich kannte die Falte in ihrer Stirn,[...], von allen Gelegenheiten, von schweren Ballspielen und Wettschwimmen und Klassenaufsätzen und später auch bei erregten Versammlungen und beim Flugblätterverteilen.[...]Die Falte in ihrer Stirn, die früher nur bei besonderen Gelegenheiten entstand, wurde zu einem ständigen Merkmal," und berichtet schließlich vom Verhungern der Leni im Frauenkonzentrationslager; und ist sich sicher, "das sie selbst im Tod ihr Apfelgesicht mit der eingekerbten Stirn behalten hatte.".
Marianne, "das hübscheste Mädchen der Klasse", sitzt auf der anderen Seit der Wippschaukel. Für sie wählt Netty als besonders kennzeichnend das Gesicht: "In ihrem Gesicht, so edel und regelmäßig geschnitten [...] war nichts zu sehen als Heiterkeit und Anmut. Man sah ihr ebensowenig wie einer Blume Zeichen von Herzlosigkeit an, von Verschulden oder Gewissenskälte. Ich selbst vergaß sofort alles, was ich über sie wußte, und freute mich ihres Anblicks."
In der gleichen Art und Weise, wie Netty ihre Freundinnen Leni und Marianne beschreibt, verfährt sie auch bei den anderen Personen. Die Erzählerin holt auf diesem Weg, die Mädchen und Jungen, die Lehrer und Lehrerinnen aus dem Totenreich zurück und haucht ihnen durch literarisches Erinnern und dichterischer Bewältigung Leben ein. Vergangenheit wird durch Dichtung Realität.[8] Sie werden von Netty benötigt, um diesen Ausflug leben zu lassen. Sie ist diejenige, die diesen Ausflug braucht, braucht um mit den Ereignissen, die sie nicht beeinflussen konnte fertig zu werden, sie verarbeiten zu können, ein Stück ihrer Lebensgeschichte zu bewältigen.
Dies ist eine der beiden Funktionen des Schreibens[9] in dieser Novelle: Bewältigung dessen, was sie vergessen wollte, Personen im Gedächtnis zu behalten und ihrer zu gedenken. Sie leistet in aller Stille ihres Schreibens, in der Nüchternheit ihres Motivs des Ausfluges (toter) Mädchen Trauerarbeit. Netty trauert um die verloren gegangenen, nicht wiederbringbaren Menschen.
Die andere Funktion des Schreibens ist die Überwindung einer Lebens - und Schaffenskrise. Diese Krise der Erzählerin entstand durch die Nachricht, das ihre Mutter deportiert und ermordet wurden war, das ihre Heimat Mainz durch Bomben zerstört wurde und letztendlich durch den schweren Unfall, den die Verfasserin im Exil selbst erlebte.[10] Sie möchte erzählen von Vergangenem und Erfahrenem, von den Gedanken, die in ihr anwuchsen, anwuchsen zu neuem Mut und neuer Kraft: "Denn abgeschlossen ist, was erzählt wird."[11]
Die Bewältigung der Vergangenheit (in all ihren Phasen - Anm. d. Verf.) ist also die notwendige Voraussetzung für den Aufbau des Neuen.[12]
Auch die neue Art und Weise mit Zeit und ihrer Betrachtungsweise umzugehen, wird in dieser Novelle zur Notwendigkeit. Die Zeit scheint aus den Angeln gehoben zu sein. Durch das Schreiben und die mit der Bewältigung der Vergangenheit einher gehenden Gedanken, wird sie in eine neue Form gebracht.
Geschehenes wird zur Gegenwart und vermischt sich mit der gewesenen Zukunft des bereits Vergangenem, zum "Jetzt des Ausfluges".[13] Es entsteht ein Bild aus dem vergangenem reellen Erlebnis (der Erfahrung), dem zurückliegenden "Geworden sein" und der ebenfalls schon vergangenen Zukunft: Das Gewesene ist wieder.
"Recherche du Temps Perdu", die Vergangenheit der Zeit zu entreißen, ist die ewige Aufgabe der Dichtung."[14]
Diese Verknüpfung von unterschiedlichen Zeitpunkten (Zeitformen), aus deren Sicht das Leben eines toten Menschen als gedachte Gegenwart ("im Moment") erzählt wird, ist das Beeindruckende an dieser Erzählung. Die Autorin springt von einer Person zur nächsten, von einem Schicksal zum anderen, gibt eigene und fremde Eindrücke sowie Charaktere der Personen wieder, um im nächsten Augenblick dem Leser erklären zu wollen: Diese Personen leben nicht mehr. Sie sind tot.
Es ist ein Ausflug in die Vergangenheit: ein Ausflug in eine gewesene Welt, ein Ausflug in das Leben gewesener Menschen.
Aus der Vielzahl der Mädchenschicksale von denen Netty so eindringlich berichtet, hebt sich eines besonders hervor: das Schicksal des Mädchens Marianne. Das Mädchen Marianne war nicht von vorn herein dazu bestimmt, eine Verräterin zu werden. Alles hätte anders werden können und auch anders werden sollen. Netty sagt, daß Marianne und Otto Fresenius den Mädchen ihrer Klasse zum ersten Mal den richtigen Begriff eines Liebespaares gaben, "wie es die Natur selbst geplant und zusammengefügt hat."
Als sie damals mit Otto Hand in Hand, einen Finger in seinen gehängt auf der Kaffeeterrasse am Rhein stand, ahnte noch niemand, daß Otto 1914 in einem Studentenbataillon in den Argonnen fallen werde und Mariannes Leben sich völlig ändern würde. Wäre Otto nicht gefallen, so wäre Marianne seine Frau geworden. Netty ist sich sicher, daß er "dem zarten schönen Gesicht seiner Frau Marianne einen solchen Zug von Rechtlichkeit, von gemeinsam geachteter Menschenwürde eingeprägt" hätte, "der sie dann verhindert hätte, ihre Schulfreundin zu verleugnen."
Das Mädchen Marianne wird zum zentralen Punkt der Erzählung. Sie, die beste Freundin von Leni und Netty, antwortet auf die Frage, ob sie das Kind der Leni aufnehmen würde: "Sie kümmere sich nicht um ein Mädchen, das irgendwann, irgendwo einmal zufällig in ihre Klasse gegangen sei. Ein jeder Pfennig an Leni und deren Familie gewandt, sei herausgeworfen, ein Betrug am Staat."
Wie konnte dies geschehen? Wie konnte diese Freundschaft der beiden Mädchen , die "die Arme gegenseitig um die Hälse geschlungen, Schläfe an Schläfe gelehnt, aus dem Schaukelgärtchen" zogen, zerbrechen? Wie konnte Marianne ihre beste Freundin verleugnen?
Auf dieses wie gibt Netty keine Antwort.
Die Novelle erzählt von Gemeinheit und Verrat, Grausamkeit, Gewalt und menschlichen Abgründen; aber eine Antwort auf die Frage Wie konnte es dazu kommen? gibt es nicht. Eine Frage, die der nach dem Wie sehr nahe steht ist das Was ist aus den Mädchen geworden?. Diese Frage gehört zum Grundproblem der Erzählung.[15] Im Verlauf des Berichts über den Ausflug erfährt der Leser, was das Leben aus Marianne gemacht hat, was es aus den Lehrerinnen Fräulein Mees und Fräulein Sichel machte und wie es Gerdas Weg beeinflußte.
Die erhoffte Antwort auf das "Wie konnte dies geschehen?" findet der aufmerksame Leser nicht im Text. Eine Antwort auf diese Frage findet sich im nicht Geschriebenen. In den Gedanken und Bildern, die diese Novelle in jedem freisetzen sollte, findet sich eine vage Vermutung dessen, was ausschlaggebend sein könnte. Es ist die stumme Übereinstimmung mit denen, die diese Zeit selbst erlebt haben, davon erzählt haben und erzählen; die dieses Unfaßbare als Warnung den Kommenden entgegenhalten: Lehrer sein möchten für eine neue Generation.
Genauso versteht sich auch Netty Reiling. Ihr Anliegen ist es: "[...] Lehrer zu sein für ein ganzes Volk."[16].
Sie möchte Lehrerin sein für ein ganzes Volk. Mit den Möglichkeiten einer Schriftstellerin neue Menschen formen, durch Schrift und Text am Aufbau einer neuen Zeit mit Hand anlegen. In dieser Funktion wird aus Netty Reiling Anna Seghers, die antifaschistische Schriftstellerin.
Vieles das seit den glücklichen und friedlichen Momenten des Klassenausflugs passiert war, hatte niemand vorhersehen können. Den Lauf der Zeit kann niemand aufhalten und das Schicksal niemand beeinflussen. Zu dieser Einsicht gelangt auch Anna Seghers. Warum soll sie dann noch nach dem wie konnte dies geschehen fragen?

Fest steht, daß die Mädchen und Jungen der beiden Klassen unwiederbringlich tot sind. Nur die lebhafte Erinnerung Nettys läßt sie für einen Moment auferstehen. Macht es also keinen Sinn über die Ursachen nachzudenken?
Natürlich macht es Sinn darüber nachzudenken, denn für die Kommenden und das Bevorstehende können daraus Lehren gezogen werden.
Für den Leser ist es wichtig zu erkennen, das die Frage Wie konnte dies geschehen? im Zusammenhang mit dem Schicksal der Mädchenklasse nicht beantwortet wird: eine Antwort darauf, würde die Mädchen nicht wieder bringen. Die Mädchen und alle anderen sind tot, durch die Wucht des ersten und zweiten Weltkrieges zerschmettert. Ihre "Existenz" begrenzt sich auf die Erinnerungen Nettys an den wunderschönen Schulausflug in der Heimat.
Die Suche nach einer Antwort auf das wie, im Zusammenhang mit dem sinnlosen Tod der Mädchen, gliche der Suche nach der Antwort auf die Frage: "Wo endet das Weltall?". Dies sind zwei Fragen, auf die es keine Antwort gibt; und sollte man sich die Mühe machen und seinen Geist anstrengen, eine Antwort auf diese Fragen zu finden, bestünde die Gefahr, verrückt zu werden. Auf die letztere Frage bezogen, steht das "verrückt werden" für die Unmöglichkeit einer wissenschaftlich fundierten Antwort.
Die erste Frage betreffend, steht das "verrückt werden" jedoch für die Ohnmacht, die jeden vernünftig denkenden Menschen erfassen müßte, wenn jemand eine Antwort auf sie fände. Dies würde den Menschen den endgültigen moralischen sowie ethischen Untergang bescheinigen.
Dies hat die Schriftstellerin Anna Seghers erkannt. Sie schafft mit der Art und Weise ihres Erzählen, als kleines Schulmädchen mit dem Verstand und dem Erlebten einer erwachsenen Frau, von einem Schulausflug berichtend, beim Leser ein beklemmendes Gefühl.

"Der Ausflug der toten Mädchen" ist eine Novelle. Nach Goethe erzählt die Novelle, eine "sich ereignete unerhörte Begebenheit".[17] Aber ist es nicht gerade so, daß diese unerhörte Begebenheit hier fehlt?
"Der Ausflug der toten Mädchen" ist genau um diese "fehlende" unerhörte Begebenheit herumgebaut, die aus arglosen jungen Menschen Nazis oder Antifaschisten machte: eine Goethesche klassische Novelle ex negativo. Was ist aber der Grund dafür? Der Grund liegt im anders gewordenen Denken über Gründe menschlichen Handelns bzw. menschlichen Denkens. Die Entwicklung der Gesellschaft und jedes einzelnen Menschen ist geprägt durch Widersprüche, Sprünge, Abgründe und Enttäuschungen. Dieser Optimismus der Aufklärung, einen Menschen und sein Handeln voll zu verstehen, ist mit Kleist, Büchner und Lenz vorbei. In deren Nachfolge stellt auch Seghers die Abgründe der Gesellschaft fest: völlige Fassungslosigkeit und ein Nichtverstehenkönnen sind ihre Reaktion darauf. Sie sagt selber über die Generation von Kleist und Büchner: "Die Realität ihrer Zeit und ihrer Gesellschaft hat auf sie (..) eine Art von Schockwirkung [ausgeübt]."[18]
Dies gilt für die Zeit, in der sie diese Novelle schreibt, auch für sie selber.
Es ist ein weiterer Grund dafür, daß die Seghers keine Antwort auf das wie gibt. Für Anna Seghers gibt es nur einen tiefen schmerzlichen Riß. Ein Riß kann aber nur da auftreten, wo etwas ganz fest zusammengehört: ein Punkt, der "eigentlich" unzertrennlich ist. Im Fall der vorliegenden Novelle sind es das Leben und das Schicksal. Sie gestaltet durch ihre schriftstellerische Arbeit diesen Riß und gibt dieser unerhörten Begebenheit eine, in die Gedanken des Lesers hinein projektierte Existenz.
Anna Seghers holt mit dieser Novelle die Vergangenheit zurück, die nie vergangen sein wird. Sie mahnt durch die schrecklichen Schicksale einfacher Mädchen. Ihrer lähmenden Schwermut, die sie angesichts der Erinnerungen an die Mädchenschicksale befällt, versucht sie Tätigkeit entgegenzusetzen: schreiben.[19]

"Ich fragte mich, wie ich die Zeit verbringen sollte, heute und morgen, hier und dort, denn ich spürte jetzt einen unermeßlichen Strom von Zeit, unbezwingbar wie die Luft. Man hat uns nun einmal von klein auf angewöhnt, statt uns der Zeit demütig zu geben, sie auf irgendeine Weise zu bewältigen. Plötzlich fiel mir der Auftrag meiner Lehrerin wieder ein, den Schulausflug sorgfältig zu beschreiben. Ich wollte gleich morgen oder noch heute abend, wenn meine Müdigkeit vergangen war, die befohlene Aufgabe machen."

Mario Katscher

Literaturverzeichnis


Degemann, Christa Anna Seghers in der westdeutschen Literaturkritik 1946-1983: eine literatursoziologische Analyse, Köln 1985
Eckermann, Johann Peter Gespräche mit Goethe, Berlin und Weimar 1982
Hilzinger, Sonja "Im Spannungsfeld zwischen Exil und Heimkehr - Funktionen des Schreibens in der Novelle: Der Ausflug der toten Mädchen" in Weimarer Beiträge 1990, 1572
Lukács, Georg "Ein Briefwechsel zwischen Anna Seghers und Georg Lukács (1938/39)"
in Lukács, Essays über Realismus, Werke 4, Berlin 1971
Mayer, Hans "Die Zeit in Anna Seghers: Der Ausflug der toten Mädchen" in Sinn und Form 1962, Heft 1,126
Pohle, Fritz "Vorbereitung für die nächste Deutschstunde und mehr: Der Ausflug der toten Mädchen" in Argonautenschrift, Jahrbuch der Anna Seghers Gesellschaft Berlin und Mainz e.V., 1 / 1992, 41

Zitiert wird nach
Seghers, Anna Der Ausflug der toten Mädchen und andere Erzählungen, Berlin 1950
© by Mario Katscher


[1] Originaltext aus der Ausgabe des Aufbau-Verlags Berlin aus dem Jahre 1950, S. 7 - 34. Alle weiteren Textstellen aus dieser eben benannten Ausgabe, sind kursiv dargestellt.
[2] Degemann, S.44
[3] "Dieser Satz fehlt in den Ausgaben des Aufbau-Verlags von 1953 bis in die 70er Jahre hinein. Da die Bedeutung des Begriffs "Freunde" im konspirativen Sprachgebrauch der Partei eindeutig ist - nämlich als ein Synonym für "Partei" resp. "Sowjetunion"- liegt der folgende Schluß nahe: Lektor, Zensor oder aber die Autorin selbst haben mißverständlichen Interpretationen vorzubeugen gesucht." (Pohle, S. 45)
[4] Dieser Dunst beschreibt ihren Zustand nach dem Autounfall. Ihr Sehvermögen war für kurze Zeit eingeschränkt. Sie verarbeitet diese Erfahrung in ihrem Beschreiben der öden Gegend.
[5]Im Motiv der weißen Mauer sehe ich nur die Erinnerung an die friedliche Kinderzeit. Für immer existieren aber auch die schlechten und schrecklichen Erinnerungen. Aus diesem Grunde wird es immer ein Versuch bleiben, solche Gedanken völlig zu verarbeiten; und im besonderen eine solch schmerzliche Erinnerung wie den Tod der Mutter.
[6] Hilzinger, S. 1572 (1574)
[7] "Zum Bild kommen Ton und Geruch. Sie zaubern den Garten der Kindheit [...] hervor.", Sinn und Form 1962, S. 126 (126)
[8] Sinn und Form 1962, S. 126 (128)
[9] Hilzinger, S. 1572 (1572, 1576)
[10] Degemann, S.42
[11] aus dem Roman "Transit"
[12] Hilzinger, S. 1572 (1578)
[13] "Gegenwart, Verwandlung und Aufleuchten der Vergangenheit sind die drei Hauptmomente.", Sinn und Form 1962, S. 126 (126)
[14] Sinn und Form 1962, S. 126 (131)
[15] Sinn und Form 1962, S. 126 (129)
[16] Hilzinger, S. 1572 (1578)
[17] Eckermann, S. 194
[18] Lukás "Ein Briefwechsel", S. 345 (348)
[19] Degemann, S. 43