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Inhalt 

1.  Einleitung  
2.  Flanerie, Feuilleton, kleine Form und das Berlin der zwanziger Jahre 
    2.1   Die Pariser Passagen 
    2.2   Die „kleine Form" 
    2.3   Das Berlin der zwanziger Jahre
3.  Franz Hessel: „Ein Flaneur in Berlin"   
    3.1. Wiederkehrende Motive in Hessels Leben und Werk 
    3.2.  „Ein Flaneur in Berlin" 
        3.2.1.  „Der Verdächtige" 
        3.2.2.  „Rundfahrt"
4. Schlußbemerkung
5. Bibliographie

  

1. Einleitung 

Ausgehend von einem Gruppenreferat über Franz Hessels „Ein Flaneur in Berlin" möchte ich das Verhältnis des Flaneurs zur Großstadt Berlin untersuchen. „Zeit" wird dabei eine wichtige Rolle spielen, da sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und ihre Verknüpfungen untereinander wie ein roter Faden durch das Buch ziehen. Diese „Zeit-Räume" scheinen mir die Grundlage von Hessels Flanieren zu sein. Köhn schreibt dazu: "In ihrer extremen Konkretion enthüllen sich Hessels Raumbilder immer als Zeitbilder." (Köhn, S. 186) Darüber hinaus stellt „Zeit" für die Moderne auf der Ebene der Beschleunigung vieler Lebensbereiche im Alltag der Großstadt in den zwanziger Jahren einen wichtigen Aspekt dar.  In diesem Zusammenhang werde ich auf das ambivalente Verhältnis des Flaneurs zu seiner Heimatstadt und das damit verbundene Begriffspaar Nähe-Distanz  eingehen (Nähe und Distanz ziehen sich durch Hessel gesamte Biographie, genauso wie durch sein Werk. Schon als Kind war er der ausgeschlossene Zuschauer, in den Dreierbeziehungen, die er erlebte, distanzierte er sich und schreiben konnte er immer erst, nachdem er eine räumliche oder zeitliche Distanz zu den Ereignissen aufgebaut hatte): in der Vergangenheit  hat der Flaneur hier zwar seine Kindheit verbracht, aber er muß dennoch über sie lernen: „Zum Schluß müßte ich nun eigentlich auch einige ´Bildungserlebnisse` beichten und gestehen, aus welchen Büchern ich lerne, was nicht einfach mit Augen zu sehen ist, und manches was ich sah, besser zu sehen lerne." ( Hessel, S. 274). Andererseits zeigt sich aber auch eine große Nähe des Flaneurs zur Stadt seiner Kindheit. Die Vergangenheit ist sogar unverzichtbar für ihn, um die Gegenwart, die, bedingt durch die massiven Veränderungen, noch leer ist, und sich zudem in rasantem Tempo weiterentwickelt, zu füllen. Deshalb taucht  er immer wieder ein in die Vergangenheit von Orten und Dingen: „Damit die leere Stadt erneut Heimat werden kann, wird sie möbliert mit Bedeutungen, die die Erinnerung herbeibringt: Vergangenheit vervollkommnet die Wahrnehmungsobjekte." (Plath, S. 99). Über die Zukunft informiert der Flaneur  sich ebenfalls. Zum Beispiel läßt er sich von einem Architekten die neue Architektur zeigen und erklären (vgl. Hessel, S. 14). Der Flaneur muß sich führen lassen, da er sich in der Zukunft nicht auskennt. Oft schafft er aber auch ganz bewußt eine Distanz, um Berlin mit anderen Augen sehen zu können, wie  im Kapitel „Rundfahrt" (vgl. Hessel, S. 51 ff.) , in dem er versucht, die Stadt mit den Augen der Touristen zu sehen. Dieses „mit anderen Augen sehen" bezeichnet Hessel als den „Ersten Blick". Es stellen sich vor diesem Hintergrund folgende Fragen: wo und unter welchen Umständen fühlt sich Hessels Flaneur in Berlin überhaupt zuhause? Womit identifiziert er sich und wann, warum und in welchen Situationen distanziert er sich? Ich werde zunächst die Entstehung der Figur des Flaneurs in Paris skizzieren, eine literaturgeschichtliche Einordnung vornehmen, sowie einige für meine Arbeit relevante Charakteristika des Berlin der zwanziger Jahre darstellen und dann versuchen, meine Fragestellung textimmanent und vor dem Hintergrund der vorangegangenen Kapitel zu beantworten. Für den Titel „Ein Flaneur in Berlin" werde ich im Fußnotenteil die Abkürzung „FiB" benutzen. 


2. Flanerie, Feuilleton, kleine Form und das Berlin der zwanziger Jahre

 
2.1.Die Pariser Passagen 

Im Zuge der Industrialisierung und der damit verbundenen Steigerung der kapitalistischen Warenproduktion zu Beginn des 19. Jahrhunderts veränderten sich die europäischen Großstädte grundlegend. Entscheidend für die Geburt der großstädtischen Figur „Flaneur" war das Entstehen der Ladenstraßen, die sich später zu weitläufigen ´Fußsystemen` zusammenschlossen. In Paris waren die Galerien des Palais Royal die früheste Ausprägung der späteren Passagen (Köhn, S. 27).  Die Mehrzahl der Pariser Passagen entstand in den anderthalb Jahrzehnten nach 1822 (Benjamin, S. 45). Die Möglichkeit zu ausgedehnten Spaziergängen und die reichhaltigen Warenauslagen luden zu müßigem Umherschlendern ein. Der Langsamkeit und dem Müßiggang wurde dabei demonstrativ gehuldigt: so galt es als elegant, beim Schlendern eine Schildkröte mit sich zu führen (Benjamin, S. 532). Walter Benjamin zitiert eine Beschreibung der Passagen des „Illustrierten Pariser Führers": „Diese Passagen, eine neuere Erfindung des industriellen Luxus, sind glasgedeckte, marmorgetäfelte Gänge durch ganze Häusermassen (...) Zu beiden Seiten dieser Gänge, die ihr Licht von oben erhalten, laufen die elegantesten Warenläden hin, so daß eine solche Passage eine Stadt, ja eine Welt im kleinen ist." (Benjamin, S. 45). Der Flaneur betrieb das müßige Umherschlendern aus verschiedenen Gründen: zum einen verband er es mit der Ausbildung einer besonderen Kunst der Beobachtung; nach Benjamin ist der Müßiggang des Flaneurs außerdem eine Demonstration gegen die Arbeitsteilung (Benjamin, S. 538).  Aber auch Schriftsteller begannen zu flanieren, um Geld zu verdienen.   

2.2. Die „kleine Form" 

Daß nun, wie im Falle Hessels, in großer Zahl Schriftsteller als Flaneure durch Passagen und Straßen der Großstädte schlenderten, hat nach Köhn grundlegende, das „Verhältnis von Buch- und Presseproduktion betreffende Veränderungen der Rahmenbedingungen literarischer Arbeit zur Voraussetzung."  (Köhn, S. 30). Seit Anfang des 19. Jahrhunderts ermöglichte  das Entstehen des Feuilleton  den Autoren, ihre Arbeiten in Zeitungen zu veröffentlichen und davon zu leben. (Feuilleton heißt übersetzt soviel wie "Blättchen" und hat zwei Bedeutungen: zum einen meint er eine bestimmte Rubrik in der Zeitung, eine Einlage mit viel freiem Raum, zum anderen ein bestimmtes Genre, einen einzelnen Artikel. Der Feuilleton entstand um 1800 in Paris und verbreitete sich wenig später auch in Deutschland. Thematisch beschäftigte sich der Feuilleton mit Buchbesprechungen, Länder- und Völkerkunde, Mode, Anspruch, Originalität, etc.Vgl. den Artikel zum Thema Feuilleton von Almut Todorro im Historischen Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3) Der Zeitschriftenmarkt vergrößerte sich und bot für die Autoren ganz neue Möglichkeiten. In diesem Zusammenhang entstand die sogenannte „kleine Form", zu der auch die Texte in Hessels Flaneur-Buch gezählt werden. Köhn bezeichnet die „kleine Form" vor diesem Hintergrund als Annäherung von Literatur und Journalismus, die mit dem Anspruch auftritt, eine „Kunstform zu sein, ohne über einheitliche Darstellungsregeln zu verfügen, ihre historische Konstitution aber dem Journalismus verdankt" (Köhn, s. 8f.) Eine knappe Definition dieser Literaturgattung findet sich im „Handbuch des Feuilleton": „Die kleine Form. Gemeint ist damit die nicht leicht einzuordnende, in der Presse meist unter dem Strich beheimatete, höchst mannigfaltige Literaturgattung der kürzeren Prosastücke, als da sind: poetische Betrachtungen der kleinen und großen Welt, liebenswerte Alltagserlebnisse, verliebte Spaziergänge, wunderliche Begegnungen, Stimmungen, gemütvolle Plaudereien, Glossen und dergleichen" (Ernst Petzold in: Wilmont Haake, Handbuch des Feuilleton, Bd. II, S. 473). Texte über Lebens-, Verkehrs- und Straßenbeschreibungen waren nicht typisch für den Feuilleton. Sie traten aber dennoch in den zwanziger Jahren in den Vordergrund, denn die Leser zeigten besonderes Interesse für Texte über das großstädtische Leben. Dieses Interesse entstammte dem  „Bedürfnis des Publikums nach Darstellung und Deutung der stetig komplexer  und für den einzelnen immer undurchschaubarer werdenden urbanen Gegenstandswelt." (Köhn, S. 31) Der Feuilletonteil der Zeitungen sollte die Leser auch über neue Ereignisse und Orte in ihrer Stadt informieren, wodurch sich die Großstadt einerseits zu einem zentralen Thema in der Selbstverständigung des Bürgertums entwickelte und andererseits für die Schriftsteller erstmals zum Stoff wurde, der nach einer eigenständigen Darstellung verlangte (Köhn, S. 8). Die Wahrnehmungsstruktur der Moderne spiegelt sich in den Merkmalen des Feuilleton der modernen Massenpresse wieder. Zu diesen Merkmalen gehören zum Beispiel Kürze, Fragmentierung und Oberflächlichkeit (Becker, S. 53). Hessel nutzte den Freiraum, der dank dieser unklaren Definition der kleinen Form durch ihre Position zwischen Literatur und Journalismus entstanden war: er „gelangte zu der Einschätzung, daß sich trotz der Verwertungszwänge des Marktes gerade auch in der Presse Texte lancieren lassen, die allein künstlerischen Kriterien entsprechen." (Köhn, S. 174). Die Entstehung und Verbreitung der „kleinen Form" wurde darüber hinaus durch Veränderungen der Großstadtliteratur bedingt. Sabina Becker weist auf eine Korrespondenz zwischen der Literatur der Moderne und der Großstadtliteratur hin und spricht in diesem Zusammenhang von der „Unerzählbarkeit der technisierten Moderne."  (vgl. Becker, S. 13). Die Literatur der Moderne mußte sich mit den urbanisierten und technisierten Lebensbedingungen der Menschen auseinandersetzen. Zentrale Begriffe sind in diesem Zusammenhang „Bewegung" und „Zeit" als Konsequenz urbaner Erfahrung (Becker, S.9). Wie ich im dritten Kapitel zeigen werde, bereiten die rasanten Veränderungen und das (Lebens)Tempo der Großstadt auch Hessels Flaneur deutliche Schwierigkeiten. Diese unterschiedlichen Geschwindigkeiten lassen den Schriftsteller die Großstadt als „dynamisierte Bilderwelt" (Becker, S. 12) erfahren, „die sich dem Erzählen und dem erzählenden Beschreiben entzieht" .  Dies hat eine völlig neue Erzählstruktur zur Folge: Die Großstadt läßt sich nicht mehr als Objekt aus der Distanz beschreiben, sondern wird nun „über ihre sinnliche Erfahrbarkeit zum Ausdruck gebracht" (Becker, S. 12). Der traditionelle realistische Roman löste sich in Folge dieser Unerzählbarkeit auf und als Darstellung der Großstadt bedienten sich die Schriftsteller kleinerer Formen, dem Prosagedicht und der Skizze (Köhn, S. 7ff.) 

2.3. Das Berlin der zwanziger Jahre 

„In Hessel betritt erstmals der Typus des durch die französische Tradition geprägten Flaneurs Berliner Boden."  (Köhn, S. 174). Dieser  Boden, den Hessel 1927 bei seiner Rückkehr aus Paris betrat, war ein sehr unruhiges und von schwerwiegenden Veränderungen geprägtes Pflaster. Hessels Flaneur will sich um die Vergangenheit und die Zukunft Berlins, „dieser Stadt, die immer unterwegs, immer im Begriff, anders zu werden, ist" (Hessel, S. 12), kümmern. Im Jahr 1920 wurde Groß-Berlin geschaffen. Berlin war nun eine Großstadt mit etwa vier Millionen Einwohnern und entwickelte sich in den folgenden Jahren zur Kulturmetropole und einer der bedeutendsten Industriegroßstädte Europas. Die Stadt wurde zum wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Zentrum der Weimarer Republik und gehörte Ende der zwanziger Jahre zu den führenden Städten der Welt. Die extreme Geschwindigkeit, mit der Berlin wuchs und sich entwickelte und das Interesse der Berliner an den amerikanischen Kultur- und Lebensformen , wirkte sich natürlich auch auf das Alltagsleben der Menschen aus: „Berlin war auch mit dem Tempo amerikanischer Städte gewachsen. Eine Beschleunigung sämtlicher Lebensbereiche setzte ein (...) In den zwanziger Jahren war das Gesicht der ehemaligen preußischen Residenzstadt bis auf einige Baudenkmäler und Wohnhäuser fast vollkommen verschwunden." (Becker führt als Grund für die starke amerikanische Beeinflussung der Berliner Bevölkerung deren "unbekümmerte Haltung der eigenen Geschichte gegenüber" an. Berlin sei, verglichen mit anderen europäischen Hauptstädten, eine "auffallen geschichts- und traditionslose Stadt" gewesen. Aus diesem Grund sei die Bevölkerung "noch offen für die neuen Strömungen der modernen Zeit" gewesen. Becker, S. 27) Genau diese Beschleunigung des Lebens, die rasanten Veränderungen, das Verschwinden und das Neuwerden großer Teile der Stadt, in der Hessel seine Kindheit verbrachte, sind  die zentralen Themen und der rote Faden seines Flaneur-Buches. Weitere Veränderungen ergaben sich durch die Elektrifizierung Berlins, wie zum Beispiel der Beleuchtung der Straßen und der Warenhäuser, die nun auch abends zu belebten öffentlichen Räumen wurden, indem sie den abendlichen Spaziergang möglich und attraktiv machten. Die Warenhäuser wirkten sich auch auf die räumliche Struktur Berlins aus; die neuen Kaufhäuser siedelten sich in der Gegend des Alexanderplatzes und der Leipzigerstraße an, wodurch sich das Zentrum Berlins vom Tiergartenviertel, dem „Alten Westen" in den sogenannten „Neuen Westen" verschob. (Becker, S. 36). Wie oben bereits erwähnt, spielt die Zeit auf unterschiedlichen Ebenen eine entscheidende Rolle in Hessels Texten. Hessel greift damit eine weitere wichtige Veränderung im Leben der Großstadtmenschen in den zwanziger Jahren auf: die - durch die Elektrifizierung und Mechanisierung der Stadt bedingte - neue Zeiterfahrung, die eine völlig neue Art der Wahrnehmung zur Folge hatte. Die vielfältigen Beschleunigungsprozesse  im Alltagsleben der Berliner waren mit einer Temposteigerung aller Lebensbereiche verbunden. ( Becker nennt in diesem Zusammenhang die "Elektrifizierung der Verkehrsmittel, schnellere Kommunikation durch Erfindungen wie Telefon und Telegraph, Amerikanisierung der Produktion, sowie Erhöhung der Zirkulationsgeschwindigkeit der Waren. Becker, S. 38). Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang den Verkehrsmitteln zu: „Die Verkehrsmittel beschleunigten nicht nur das Tempo und den Rhythmus der Großstadt, sondern avancierten in ihrer Mobilität und Dynamik auch zu Faktoren, die die Wahrnehmung und Erfahrung der Menschen grundlegend verändert haben. (...) Die Relativierung von Raum und Zeit und des traditionellen Raum-Zeit-Verhältnisses durch die Eisenbahn, die Aufhebung der Erfahrung des Raumes und der Zeit als Kontinuum, finden in der Entwicklung der innerstädtischen Verkehrsmittel ihre Wiederholung."  (Becker, S. 39). Hessels Flaneur macht genau diese Erfahrung bei seiner Rundfahrt mit einem innerstädtischen Verkehrsmittel, dem Touristenbus. Der fahrende Flaneur wird mit mehreren Bewegungen konfrontiert. Er selber bewegt sich, bzw. wird durch den Touristenbus bewegt, die Stadt um ihn herum bewegt sich, und zwar sowohl auf der Ebene der Zeit als auch auf der des Raumes. Becker bezeichnet die Bewegung als wichtigstes Kennzeichen städtischer Wahrnehmung um 1900: „Die Bewegung wird das Signum der Moderne und der Großstadt." (Becker, S. 51).  Für Hessels „Flanieren in Berlin" ist die Schlußfolgerung interessant, die Dynamisierung der Außenwelt fordere die Dynamisierung der Wahrnehmung von Zeit und Raum. ( vgl. Becker, S. 49ff.). 


 3. Franz Hessel: „Ein Flaneur in Berlin"

 
3.1. Wiederkehrende Motive in Hessels Leben und Werk 

Einige zentrale Motive des Flaneur-Buches sind offensichtlich für Hessel nicht an das Thema des Flanierens gebunden, da sie auch in seinen anderen Werken zu finden sind. Kindheit und Distanz scheinen solche Motive zu sein. Bereits in seinem ersten Roman „Kramladen des Glücks", der 1913 erschien, schildert Hessel seine eigene Kindheit. Schon als Kind war er der Zuschauer, derjenige, der nicht dazu gehörte und die Dinge, in diesem Fall die Spiele der anderen Kinder, vom Fenster aus, also aus der Distanz, beobachtete. Hessels Flaneur beobachtet in den Texten immer wieder Kinder beim Spielen, zum Beispiel im ersten Kapitel „Der Verdächtige". Er nimmt die  Rolle des außenstehenden Zuschauers ein und fühlt sich offenbar unwohl dabei: „Ich fühle, wie hinter mir die Produktenwitwe ihren Hals reckt. Wird sie den Schupo darauf aufmerksam machen, was ich für einer bin? Verdächtige Rolle des Zuschauers!" (Hessel, S. 8).  Auch Hessels Jugend war geprägt von dem Gefühl, nicht dazuzugehören und überall fremd zu sein ( vgl. Witte, S. 233: "Aber Hessels zentrale Erfahrung bleibt, wie die Gustav Behrendts, "daß er nirgends hingehörte, daß ihm die ganze Welt offen lag, wie die Leute sagten.").  Sein ganzes Leben scheint durch eine „distanzierte Nähe zu Menschen und Dingen"  (Witte, S. 240) geprägt. Weiterhin fällt auf, wie charakteristisch „Zeit" für Hessels Werk ist. Erinnerungen, Veränderungen, Flüchtigkeit und Abschied  sind in diesem Zusammenhang wiederkehrende Motive, die, wie ich zeigen werde, auch in „Ein Flaneur in Berlin" eine zentrale Rolle spielen ( Ueding, S. 230: " Abschied ist in allem, was Hessel geschrieben hat, die dominierende Situation. Und das zugleich szenisch - mit Abschiedssituationen enden die beiden anderen Romane ebenso wie Hessels letzter Roman - und hinsichtlich der Erzählperspektive, in der alle Ereignisse in ihrer Vorläufigkeit erscheinen.") Bereits im „Kramladen des Glücks" bemerkt der Erzähler bei sich eine Affinität zum „Bröckelnden, Niedergehenden, Brechenden", die nach Ueding auf ein weiteres Motiv verweist: „denn gerade der Zerfall ist voll Figur, und die Fragmente bilden, wie in einem Kaleidoskop, die schönsten Ornamente, wie sie nur in diesem Stadium des Prozesses entstehen und niemals sonst. Hessels Protagonisten sind Flaneure am Rande des Nichtmehrseins, beobachten fasziniert die Verwandlung alles Festen ins Flüssige, Vergängliche und vergehen selbst vor dem Glück der flüchtigen Form." (Ueding, S. 234). Bereits 1906 zog der 1880 in Stettin Geborene nach Paris, wo er seine ersten größeren Prosaarbeiten schrieb. In diesen Arbeiten rekonstruierte Hessel seine Kindheit und Jugend in Berlin aus der Perspektive des sich distanziert Erinnernden. Es scheint für Hessel charakteristisch zu sein, erst rückblickend, aus der Erinnerung heraus, zu schreiben, um das Erlebte und Gewesene vor dem Vergessen zu retten: „Für Hessel erlangt das Schreiben erst in dem Moment Bedeutung, wo eine Phase seines Lebens abgeschlossen ist und in Vergessenheit zu geraten droht. Erinnerung fungiert dann als Rettung der Besonderheit lebensgeschichtlicher Erfahrung, literarische Arbeit als Aufbewahrung von Erinnerung."  (Köhn, S. 156). Hessel soll sogar eine Abneigung gegen jede Form des Schreibens, die nicht der Sicherung lebensgeschichtlicher Erfahrung galt, gehabt haben. Nach Hessels Rückkehr aus Paris erschien 1920 die „Pariser Romanze", deren Thema die Liebe des Schriftstellers zu Paris ist. In diesem Werk benutzt Hessel einen Blickwinkel auf die Stadt, die dem Leser des Flaneur-Buches bekannt vorkommen wird: Die Distanz des Fremden verbindet sich mit der Nähe des Bewohners, „um die sich in der Alltagswelt offenbarende Individualität der Stadt" (Köhn, S. 159) zu entdecken. Hessels dritter Roman „Heimliches Berlin" (1927) entstand erst nach der Berliner Zeit aus der Distanz, in Paris. Im gleichen Jahr veröffentlichte er im Berliner „Tagebuch" zwei kleine Prosastücke: „Berliner Notizbuch" und „Spuk unterm Hochbahnbogen". Die beiden Texte weisen bereits auf das Flaneur-Buch hin, das 1929 unter dem Titel „Spazieren in Berlin" als Buch veröffentlicht wurde. Eckhardt Köhn sieht die Textsammlung als „Summe des Hesselschen Werkes" (Köhn, S. 176) an. Jörg Plath weist aber auf einen wichtigen Unterschied des Flaneur-Buches zu den vorhergehenden Werken hin: „Die Gegenwart wird nicht mehr in der Erinnerung versenkt, wie in den ersten beiden Werkphasen. Die Erinnerung tritt zur Gegenwart hinzu und vervollkommnet sie." (Plath, S. 142). 


3.2. „Ein Flaneur in Berlin" 

Hessels Flaneur-Buch enthält 22 in sich geschlossene Texte der kleinen Form (der Umfang der einzelnen Kapitel liegt zwischen fünf und 18 Seiten. Die "Rundfahrt" bildet hier mit einem Umfang von 90 Seiten eine auffällige Ausnahme) , die sich durch ihr „immanentes Darstellungsverfahren" (Köhn, S. 177)  zur Einzelveröffentlichung eignen. Köhn sieht in „Ein Flaneur in Berlin" gleichzeitig eine logische innere Struktur: die Kapitel fügen sich einer „übergreifenden, gewissermaßen topographischen Anordnung; nach sechs Eingangskapiteln wird in jeweils auf einen Stadtteil bezogenen Kapiteln das Ganze der Stadtlandschaft darzustellen versucht" (Köhn, S. 178). Meine Analyse wird sich aus Platzgründen auf die beiden Kapitel „Der Verdächtige" und „Rundfahrt" konzentrieren, da „Der Verdächtige" sich als Einleitungskapitel mit der Flanerie auseinandersetzt und die „Rundfahrt" die Zerrissenheit des Flaneurs in bezug auf „fremd" und „heimisch", Nähe und Distanz, verdeutlicht. 

3.2.1. „Der Verdächtige" 

Mit der Überschrift des ersten Kapitels (ich gehe auf diesen ersten Text besonders ausführlich ein, da er das Einleitungskapitel des Buches darstellt und sich am intensivsten mit dem Thema des Flanierens beschäftigt. Darüber hinaus finden sich auf diesen Seiten gute Beispiele für Hessels häufige Verbindung von Vergangenem und Modernem), „Der Verdächtige", wird die Position des Flaneurs, der gleichzeitig der Erzähler ist, bereits deutlich: es handelt sich um jemanden, der anders ist als die anderen, auffällt und sich deshalb verdächtig macht und fühlt. Im ersten Absatz des Textes erklärt der Flaneur dem Leser, was ihn von den anderen unterscheidet: „Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen. Man wird überspielt von der Eile der anderen, es ist ein Bad in der Brandung. Aber meine lieben Berliner Mitbürger machen einem das nicht leicht, wenn man ihnen auch noch so geschickt ausbiegt. Ich bekomme immer mißtrauische Blicke ab, wenn ich versuche, zwischen den Geschäftigen zu flanieren. Ich glaube, man hält mich für einen Taschendieb." (Hessel, S. 7). Was den Flaneur von den anderen Großstädtern unterscheidet sind seine Langsamkeit und sein „Zeitlupenblick". In der beschleunigten, hektischen Großstadt muß so ein Schlenderer auffallen. Sein Verhalten widerspricht dem ziel- und zweckgerichteten Tun seiner Umgebung. Diese Distanz scheint gewollt. Um, wie Hessel es ausdrückt, „den Ersten Blick auf die Stadt, in der ich lebe", zu gewinnen oder wiederzufinden, muß der Flaneur eine künstliche Distanz zu seiner Umgebung schaffen ( Ueding schreibt zu diesem Thema: "Hessel ist ein Fremder in der Stadt, in der er lebt, doch er ist auch kein Besucher von außerhalb, kein Tourist... Er ist der Einheimische, der sich distanziert hat, um die Physiognomie der Stadt durch das Medium der Ferne aus der Nähe zu sehen - das ist die eigentümliche Dialektik des Standpunkts, den Hessel mit seiner Suche nach den Ersten Blick meint.") Den „Ersten Blick" haben nur Fremde und Kinder . ( Plath, S. 7: "Der Flaneur sucht den verlorenen Blick des Kindes wiederzuerlangen, um der gegenwärtigen gesellschaftlichen Zweckratio zu entkommen: er verkörpert eine mobile Wahrnehmungskonzeption, deren Suche aus der unglücklichen Gegenwart fort in eine erinnerte glückliche Vergangenheit strebt.") Hessel hat den Text nach seinem Parisaufenthalt geschrieben. Es handelt sich also um zwei verschiedene Zustände der Fremdheit, die ihm helfen, die Stadt mit dem „Ersten Blick" zu sehen: Zum einen sieht er durch die äußere Distanz der langen Abwesenheit die Dinge vielleicht wirklich teilweise aus der Perspektive eines Fremden. Zum anderen gewinnt er durch die innere Distanzierung einen neuen Blick auf Berlin. Es sind aber offenbar nicht nur die Hektik, die Zielstrebigkeit und die Beschleunigung des Großstadtlebens, die ihn aus der Masse herausheben:  „In stilleren Vorstadtgegenden falle ich übrigens nicht minder unangenehm auf."  (Hessel, S. 7). Die Witwe, die ihm „böse Blicke" zuwirft, scheint zwar sein Interesse zu wecken, denn er würde sie gern über „ihr Geschäft und ihre Lebensansichten" befragen. Sein Verdächtigsein grenzt ihn aber aus und macht aus ihm einen distanzierten Beobachter, der für die Witwe wiederum um so verdächtiger wirken muß. Bei der Witwe handelt es sich um eine „Produktenwitwe", die aber auch mit Lumpen handelt. Die Produkte weisen auf den modernen Warenverkehr hin, dem der Flaneur sich bewußt widersetzt. Die Lumpen könnte man als ausrangierte Vergangenheit verstehen. Denkbar ist auch, daß er, an befremdete Reaktionen  gewöhnt,  die Blicke der Witwe aus seiner negativen Erwartungshaltung heraus falsch interpretiert. Schließlich vermutet er nur, daß sie sich nicht traut zu schimpfen und ihn für einen Geheimen oder gar für einen Päderasten hält. Auf jeden Fall wird hier aber deutlich, daß nicht nur der Flaneur die Stadt beobachtet, sondern daß auch er sich von der Stadt gesehen und sogar beurteilt fühlt. In die  Frauen, die „auf Kissen gestützt in den Fenstern" lehnen, kann er sich zwar einfühlen, doch er fühlt sich auch von ihnen nicht erwünscht: „Aber sie werden mir nicht erlauben, neben und mit ihnen zu warten.." (Hessel, S.8). Wieder ist diese Aussage nur eine Vermutung des Flaneurs, denn er unternimmt keinen Versuch, mit den Frauen in Kontakt zu treten. Bereits im nächsten Abschnitt wird die Affinität des Flaneurs zur Vergangenheit erkennbar: zu der  Frau mit dem Haar aus dem vorigen Jahrhundert  entsteht eine gewisse Nähe, zumindest „stünde" der Flaneur „lieber neben der Frau" als neben den „Straßenhändlern, die schreiend etwas feilhalten". Der Grund für die Sympathie des Flaneurs liegt, neben der altmodischen Haarpracht, in der Langsamkeit und Schweigsamkeit der Frau. Die Langsamkeit verbindet sie. Diese Nähe wird aber sogleich wieder durch einen Unterschied zurückgenommen: Hessels Flaneur stellt sich nicht zu ihr, denn er meint, ihr nicht recht zu sein, da sie in die moderne Warenzirkulation eingebunden ist und er sich dem Konsum verweigert: „Und der bin ich nicht recht, sie kann kaum annehmen, daß ich von ihrer Ware kaufen werde." Die Waren stehen für die neue Schnelligkeit und heben die gemeinsame Langsamkeit auf. Die alte Portiersfrau ist ein weiteres Beispiel für die enge Verbindung von Vergangenheit und Nähe in Hessels Texten:  „Da kann ich mich neben die alte Portiersfrau stellen - es ist wohl eher die Mutter der Pförtnersleute, so alt sieht sie aus, so gewohnheitsmäßig sitzt sie hier auf ihrem Feldstühlchen. Sie nimmt keinen Anstoß an meiner Gegenwart, und ich darf hinaufsehen in die Hoffenster, an die sich Schreibmaschinenfräulein und Nähmädchen der Büros und Betriebe zu diesem Konzert drängen." (Hessel, S.9). Diese alte Frau stammt aus der Vergangenheit, nach der der Flaneur unentwegt in der Stadt sucht. Offensichtlich ist sie bereits im Ruhestand und hat deshalb nicht mehr Teil am beschleunigten Leben der modernen Zeit. Genau wie der Flaneur, verbringt sie den Tag damit, das Leben der anderen zu beobachten. Die beiden, nicht in den Produktionsprozess integrierten, sehen gemeinsam „hinauf" zu den jungen Angestellten - Repräsentanten der Moderne- am Fenster.  Am Leben der Höfe würde der Flaneur zwar gern teilhaben, er besitzt aber „nicht Mut, noch Vorwand", seine Außenseiterrolle zu durchbrechen: „man sieht mir meine Unbefugtheit zu deutlich an. Hierzulande muß man müssen, sonst darf man nicht. Hier geht man nicht wo, sondern wohin. Es ist nicht leicht für unsereinen." Das neue Lebensgefühl der Großstadtmenschen, dessen Beschleunigung ich oben beschrieben habe, widerspricht der Intentionslosigkeit und Langsamkeit des Flaneurs. Eine „mitleidige Freundin" gibt ihm schließlich die Möglichkeit, dazuzugehören, indem sie ihn bei ihren Besorgungen mitnimmt. Ihr Konsum wird zum Alibi des Flaneurs. Nur in Begleitung dieser Freundin gelangt er auch in das Innere der Geschäfte, in die Strumpfklinik und zum Flickschneider. Sein Interesse jedoch gilt ausschließlich der Vergangenheit und dem, was er über sie lernen kann: „Ware und Nähzeug liegen auf Tischen und Etageren um Porzellanpantöffelchen, Buskuitamoretten und Bronzemädchen herum, wie Herdentiere um alte Brunnen und Ruinen lagern. Und das darf ich genau besehen, während die Frauen sich besprechen." (Hessel, S. 9f.) Der Flickschneider ist der erste Mensch in diesem Text, mit dem der Flaneur spricht: sie unterhalten sich über die Bilder des Schneiders, auf denen Angehörige der alten Monarchenfamilie dargestellt sind. Im letzten Teil des Kapitels identifiziert sich der Flaneur zum ersten Mal, und zwar mit dem Terrier seiner  Freundin: „ (Der Flickschneider) ist sehr freundlich mit dem Hunde meiner Freundin, der an allem herumschnuppert, neugierig und immer auf der Spur, gerade wie ich. Mit diesem kleinen Terrier gehe ich gerne spazieren. Wir sind dann beide ganz in Gedanken; auch gibt er mir Anlaß, öfter stehenzubleiben, als es sonst einem so verdächtigen Menschen wie mir erlaubt wäre." (Hessel, S.10). Dieser letzte Satz erinnert an die oben angeführte Bemerkung Benjamins über die Schildkröten, die beim Flanieren mitgeführt wurden. Die Verwirrung, die das Ineinandergreifen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bei Hessels Flaneur hervorrufen, charakterisiert der letzte Absatz sehr deutlich. Gleichzeitig nimmt hier die Identifizierung mit dem Hund und den Relikten aus der Vergangenheit, den Wappendamen, die Form einer Projektion an: „Ein düsterer Eindringling war dieser Lift in dem einst gelassen breiten Treppenhaus. Und die bauschigen Wappendamen der bunten Fenster sahen irr auf das Wanderverlies, und die Kleinodien und die Attribute lockerten sich in ihren Händen. Sicher roch es auch sehr diskrepant in diesem Ensemble verschiedener Epochen, was meinen Begleiter von Gegenwart und Sitte derart ablenkte, daß er auf der ersten Stufe der steilen Stiege , die zu Füßen des Fahrgehäuses vom Hochparterre hinunterführte, sich vergaß!" (Hessel, S. 10f.). Der Fahrstuhl, ein Symbol für die Moderne, verwirrt und zerstört die Vergangenheit: Die Wappendamen werden „irr" und die Kleinodien und Attribute als Zeichen der Vergangenheit, lockern sich. Hund und Flaneur, beide intentionslos, sind unerwünscht in dem Haus, wie sich an der Reaktion der Portiers ablesen läßt. Das Haus mit dem Fahrstuhl, Zeichen für die Technisierung der Stadt, und der bröckelnden Vergangenheit ist schon zu sehr Gegenwart, als das der Flaneur sich hier heimisch fühlen könnte. 

3.2.2. „Rundfahrt" 

Aus Platzgründen möchte ich nur noch kurz auf einige prägnante Stellen dieses Kapitels eingehen. In der „Rundfahrt" versetzt sich der Flaneur in die Rolle eines Touristen, um einen fremden Blick auf seine Heimatstadt zu gewinnen. Zunächst identifiziert er sich mit den anderen Touristen: „Wie hoch wir thronen, wir Rundfahrer, wir Fremden!" (Hessel, S. 51). Dennoch gehört er auch hier nicht wirklich dazu, denn der Flaneur ist „umgeben von echten Fremden", er selber ist demnach ein falscher Fremder. Schon bald werden bei Hessels Flaneur Erinnerungen geweckt, denn er kennt die Stadt; die künstliche Distanzierung will nicht gelingen: „Ich reiße mich los - ich bin doch Fremder - um gleich wieder eingefangen zu sein."  (Hessel, S. 52). An dieser Stelle wird deutlich, wie sehr die Vergangenheit der Stadt diese durch die Erinnerung des Flaneurs belebt. Auf den folgenden Seiten fällt es ihm immer schwerer, ein Fremder zu sein: „ Das ist ein Witz, über den nur die richtigen Fremden lachen können." (Hessel, S. 55).  Durch die versuchte künstliche Distanz scheint ihm seine Zugehörigkeit und Liebe zu Berlin plötzlich bewußt zu werden. Es gelingt dem Flaneur offensichtlich nicht, sich wirklich zu distanzieren: „Am liebsten möchte ich aussteigen und zu den befreundeten Bildern gehen, aber heute habe ich Fremdenpflichten." (Hessel, S. 96). Der Flaneur  zeigt dem Leser, wie gut er sich auskennt. Er weiß immer wohin und wolang gefahren wird und weiß zu allem etwas zu berichten. Er scheint zerrissen: er ist  zu Hause in der Stadt, aber fremd in der Gegenwart und den neuen Sitten. Der Flaneur beginnt, den Fremdenführer zu kritisieren, um anschließend selbst - zumindest in Gedanken - die Führung zu übernehmen: „Was die Nationalgalerie betrifft, so muß ich als dein Führer durch Berlin dich besonders auf die Bilder hinweisen, in denen Berlinisches verewigt ist." Hier besinnt sich der Flaneur auf seine Aufgabe, die Vergangenheit Berlins am Leben zu erhalten. 

4. Schlußbemerkung 

Am Anfang dieser Arbeit stand die Frage nach dem Verhältnis des Flaneurs in Hessels „Ein Flaneur in Berlin" zu der Großstadt Berlin. Zusammenfassend läßt sich zunächst feststellen, daß der Flaneur mit seiner Heimatstadt sehr verbunden ist. Er hat seine Kindheit in Berlin verbracht und kennt die Stadt offensichtlich besser als der Fremdenführer im Kapitel „Rundfahrt". Bei der Textanalyse fällt jedoch auf, daß der Flaneur sich in unterschiedlicher Weise von der Stadt und ihren Einwohnern zu distanzieren versucht: Er verhält sich abweichend von den Normen, verweigert sich dem modernen Lebensstil und dem Konsum, tut so als sei er ein Fremder und versucht zumindest den Eindruck zu erwecken, ein Ausgeschlossener zu sein. Es läßt sich ein gewisser Entfremdungseffekt feststellen. Das Berlin, welches der Flaneur der zwanziger Jahre entdeckt, entspricht nicht mehr dem seiner Kindheit. Um dieses vertraute Berlin wiederzufinden, versucht der Flaneur „den Ersten Blick", mit dem nur Fremde und Kinder sehen, wiederzuerlangen. Zum anderen möchte er die durch die rasanten Veränderungen „entleerte"  Stadt mit Hilfe der Erinnerung wiederbeleben. Meiner Meinung ist das Verhältnis von Hessels Flaneur zu Berlin von tiefer Liebe geprägt. Aus diesem Grund sind  für ihn die gravierenden Veränderungen der Stadt auch so verwirrend und schmerzlich. Aus der Distanz heraus, versucht der Flaneur die neue Zeit zu verstehen. Ähnlich könnte es in der heutigen Zeit den Menschen gehen, die zu Zeiten der Mauer in Berlin lebten. Wahrscheinlich gilt dies vor allem für die Bewohner der Ostteils der Stadt. Denn auch das ehemalige Ostberlin ist an vielen Stellen schon heute kaum noch wiederzuerkennen. Vor diesem Hintergrund sehe ich in Hessels „Ein Flaneur in Berlin" eine gewisse Aktualität. 


5. Bibliographie 

Becker, Sabina: Urbanität und Moderne. Studien zur Großstadtwahrnehmung in der deutschen Literatur 1900-1930. Werner J. Röhrig Verlag 1993. Benjamin, Walter: Das Passagenwerk. Gesammelte Schriften Bd. V.1, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, hrsg. von Wolf Tiedemann, 1991 Benjamin, Walter: Die Wiederkehr des Flaneurs, in: Franz Hessel: Ein Flaneur in Berlin. Das Arsenal, Berlin 19984. Handbuch des Feuilleton, hrsg. von Wilmont Haake, Bd. II, S. 473. Hessel, Franz: Ein Flaneur in Berlin. Das Arsenal, Berlin 1984. Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, Artikel von Almut Todorro über Feuilleton. Köhn, Eckhardt: Straßenrausch. Flanerie und kleine Form. Versuch zur Literaturgeschichte des Flaneurs von 1830-1933, Arsenal Verlag, Berlin 1989 Plath, Jörg: Liebhaber der Großstadt. Ästhetische Konzeptionen im Werk Franz Hessels. Igel Verlag, Paderborn 1994. Ueding, Gert: Die anderen Klassiker. Literarische Portraits aus zwei Jahrhunderten. Verlag C.H. Beck, München. Witte, Bernd: Auf der Schwelle des Glücks - Franz Hessel, in: Franz Hessel, Ermunterung zum Genuß. Kleine Prosa. Brinkmann und Bohse.